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«Medikale Räume sind nie unschuldig»

«Medikale Räume sind nie unschuldig»

Krankenhäuser, Operationssäle und Reha-Kliniken können viel über den Zeitgeist aussagen. Im Juli steht der medikale Raum im Fokus einer internationalen Tagung an der Uni Freiburg. Zwei Tage lang tauschen sich Expert_innen aus den Bereichen Medizin, Literatur, Geschichte und Architektur aus.

Martina King blickt gerne über den eigenen Tellerrand hinaus. Die ordentliche Professorin am Lehrstuhl für Medical Humanities verfügt nicht nur über eine medizinische Fachärztinnen-Ausbildung, sondern auch über eine doppelte Habilitation in Germanistik und Medizingeschichte. Entsprechend vielschichtig ist ihre Forschung. Zum Team, das sie leitet, gehören Literaturwissenschaftler_innen, Medizin- und Wissenschaftshistoriker_innen, etliche von ihnen auch mit einer Doppelausbildung als Kliniker_innen. Es geht um die kulturellen Dimensionen der Medizin – und die medikalen Dimensionen der Kultur. Auch beim SNF-Projekt Medikale Räume in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, mit dem sich das Team seit zwei Jahren beschäftigt. Im Rahmen dessen organisiert es als Midterm-Veranstaltung am 4. und 5. Juli in Freiburg die internationale Tagung Medical Spaces in Cultural Volg, Architecture, Literature: Transdisciplinary Perspectives.

Im Interview erklärt Martina King, was dabei im Vordergrund steht, warum medikale Räume instrumentalisiert werden und wie moderner Krankenhausbau heute aussieht.

Sie widmen dem medikalen Raum eine zweitägige Tagung. Warum sind Krankenhäuser, Operationssäle oder Chemotherapie-Räume so interessant?
Der medikale Raum ist jenseits seiner eigentlichen Funktionalität ein symbolisch hoch aufgeladener Kulturträger – und zwar sowohl in der Kunst, in der Literatur als auch in der Alltagskultur. Ein Blick in die Medien reicht aus, um zu sehen, wie sehr medikale Räume politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert werden. Sie sind nie unschuldig und wertneutral. Einerseits können sie als Flaggen des Fortschritts dienen. Wenn Sie ein populäres Wissenschaftsmagazin aufschlagen, sehen Sie da womöglich ein tolles Gamma-Knife (Methode zur Behandlung von Tumoren im Gehirn, Anmerkung der Redaktion) abgebildet, und überhaupt sieht es aus wie in einem Spacelab – ein klares Fortschrittsversprechen. Im nächsten Magazin ist andererseits womöglich ein kalt wirkender Klinikraum zu sehen, in dem der arme Mensch, der von schweren Leiden geplagt ist, endgültig jede Humanität verliert.

Ist diese Instrumentalisierung ein neues Phänomen?
Sie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Der medikale Raum ist nicht bloss eine Hülle, in der etwas drin ist, sondern zunehmend ein Akteur. Und je technischer die medikalen Räume werden, desto mehr gibt es Gegenräume; deshalb ergibt es auch mehr Sinn, vom medikalen anstatt vom medizinischen Raum zu sprechen, das ist weiter gefasst. Zum Beispiel die idyllische Reha-Klinik, in der nur die schönen Kastanienbäume zu sehen sind. Zwar gibt es dort ebenfalls technische Geräte, aber die werden nicht abgebildet. Es ist interessant, wie Kommunikation über medikale Räume in der Gegenwart läuft. Sehr pluralistisch, das macht sich die Erzählliteratur seit den 1920er Jahren stark zunutze, erforscht wurde das bis jetzt hingegen kaum. Dort setzen wir an, wir sind Literaturwissenschaftler_innen und Medizinhistoriker_innen. Uns interessiert nebst der Wirklichkeit dieser Räume auch, wie sie dargestellt werden – und welche Rolle sie kulturell, politisch und ästhetisch spielen.

Wie hat sich die Darstellung des medikalen Raums gewandelt – und was verrät uns das über den Zeitgeist?
Wenn in den Texten aus der Weimarer Republik die Technokratie der Räume behandelt wird, geschieht das zum Teil stark fortschrittsutopisch, auf der anderen Seite aber auch bereits kritisch. Sie sind zwar ein Ort, an dem der moderne Mensch und die moderne Architektur zu Hause sind, der Supermensch, den man auch in Metropolis findet, wird dort wieder hergerichtet. Gleichzeitig ist es ein Ort, an dem der Mensch den Boden unter den Füssen verliert, was die sozialen Zusammenhänge angeht. Es wird wahrgenommen, dass eine Technikrevolution im Gang ist. Die Räume, mit denen ästhetisch operiert wird, sind in der Regel weder einsinnig gut noch schlecht, sondern immer ein Durcheinander aus beidem. Exemplarisch dafür ist das Röntgenkabinett in Thomas Manns Zauberberg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Röntgen ein chaotisches Unterfangen – mit selbst gebauten Röhren, die ständig in die Luft flogen. Was im Roman beschrieben ist, war tatsächlich die Frühzeit des Röntgens, Thomas Mann kannte sich sehr gut aus. Es zeigt einerseits die Fortschrittshoffnung, andererseits ist diese verbunden mit dem Hinterfragen einer Chaostechnik, die im Grunde genommen die wissenschaftliche Einsicht in den Menschen auch wieder verdunkelt.

Wie sieht es heute aus?
Die medikalen Räume sind in eine andere Gattung abgewandert: Autobiografien von kranken Menschen. Diese Gattung ist auf dem anspruchsvollen Buchmarkt sehr präsent. In der Regel sind es Werke von kranken Schriftsteller_innen. Es gibt einige berühmte Beispiele, etwa Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf. In den Werken aus dieser Gattung nimmt der medikale Raum eine riesige Rolle ein, er ist eine Stimmungsmetapher für den Zustand der Protagonist_innen, die nicht selten schwer krank sind oder ihre Krankheit nicht überleben; die Texte brechen ab oder werden erst posthum herausgegeben. Es gibt aber auch positiver gestimmte Werke, wie Leben von David Wagner. Dort spielt das Krankenhaus als Kosmos der Postmoderne eine zentrale Rolle. Insgesamt ist die Darstellung der medikalen Räume weiterhin hoch ambivalent, mal düster, mal Totenkammer, genauso aber mal Ort, an dem man nicht bloss repariert wird, sondern neues Leben erhält. Insgesamt steht immer mehr das Krankenhaus im Vordergrund. Solche Krankenhaus-Texte gab es in der Weimarer Republik noch nicht, weil es diese Idee des Grossklinikums architekturgeschichtlich noch nicht gab.

Sie beschäftigen sich nicht nur mit Literatur, sondern auch mit Architektur. Was versteht man heute unter einem modernen Krankenhaus?
Krankenhäuser humaner zu gestalten, ist ein Langzeitgedanke, der sich schon seit den 1980er Jahren abzeichnet. Damals bedeutete das, nicht mehr hundert Meter von Pavillon zu Pavillon rennen zu müssen, weil man es womöglich mit einem akuten Herzinfarkt zu tun hatte. Seinerzeit galt es als die beste und humanste Situation, wenn die Distanz zwischen Aufnahme und Katheterlabor bloss fünf Meter betrug. Dadurch entstanden die sogenannten Breitfuss-Krankenhäuser mit ihren riesigen, zentralisierten Gebäudekernen. Die haben im unteren Bereich die ganzen Funktionen, und obendrüber steht das Bettenhochhaus. Diese Bauweise war einer zunehmenden Akutmedizin gewidmet, die versuchte, zentrale Funktionen zu integrieren. Röntgen und CT mussten für alle da sein – und möglichst bloss ein paar Meter entfernt. In den letzten 20 Jahren hat sich die Ausgangslage in der Medizin allerdings stark verändert. Die Bevölkerung altert, viele akute Erkrankungen wie Herzinfarkte oder Infektionen sind meist gut regulierbar. Insofern ist ein grosser Anteil der Krankenhauspatient_innen multimorbid, chronisch krank und profitiert nicht mehr unbedingt von sofortiger Erreichbarkeit, sondern eher von mehr Humanität im Krankenhaus – respektive einer anderen Humanität. Zum Beispiel durch mehr Licht, Einzelzimmer, Verglasungen, die bis zum Boden gehen und die mit unterschiedlichen Blenden so gestaltet werden können, dass Sonnenlicht je nach Bedarf dosiert werden kann. Es sind Akzentverschiebungen innerhalb des modernen Krankenhausbaus. Entsprechend weicht der Breitfuss-Zentralbau zunehmend heterogenen Baukörpern. Ein Gedanke ist es zum Beispiel, die Zentralklinik in der Stadt zu bauen, sodass der Übergang von der urbanen Zone zum Krankenhaus kaum merkbar ist und Patient_innen das Gefühl haben, sie seien in ihrer Lebenswelt.

Was sagt das über den Zeitgeist aus?
Meiner Meinung nach positive Dinge. Es zeigt, dass medizinethische Gedanken in den Krankenhausbau eingebracht werden. Was der Medizin lange vorgeworfen wurde, dass sie technokratisch, selbstbezogen, kalt und reduktionistisch sei, betrachte ich entsprechend als ungerechtfertigten und oft instrumentellen Vorwurf. Der Krankenhausbau spricht eine andere Sprache.

Darum und um vieles mehr geht es an Ihrer Tagung im Juli. Wie laufen die beiden Tage ab?
Der erste Tag beginnt mit einem historischen Abschnitt, angefangen mit der Peststadt in der Frühen Neuzeit. Es geht weiter mit den Spas des 19. Jahrhunderts, auch das sind medikale Räume. Das mündet anschliessend ins Krankenhaus, das den Schwerpunkt unserer Tagung bildet. Am zweiten Tag läuft dann die reale Architekturgeschichte aus und wir gehen über in den Bereich der Repräsentationen; die literarischen Darstellungen. Insgesamt gibt es an den beiden Tagen zwölf Vorträge, drei davon Keynotes. Keynote-Speaker sind Annmarie Adams, Magnus Nickl und Katrin Dennerlein. Professorin Adams von der kanadischen McGill University gehört zu den weltweit führenden Krankenhaus-Architekturhistoriker_innen. Magnus Nickl ist ein Architekt. Er arbeitet für das preisgekrönte Architekturbüro Nickl & Partner, das für ausgezeichnete Krankenhausbauten bekannt ist. Katrin Dennerlein schliesslich ist Literaturwissenschaftlerin. Sie wird über das damals moderne amerikanische Krankenhaus sprechen, in dem sich Thomas Mann einer Lungenoperation unterzog. Mann hat das später in einem autobiografischen Text verschriftlicht. Insgesamt steht an der Tagung Komplementarität im Vordergrund. Es geht darum, Jung und Alt, Literatur, Architektur und Medizin miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Tagung ist ein Signalbeispiel für gute interfakultäre Zusammenarbeit an der Uni Freiburg – in diesem Fall zwischen den Bereichen Zeitgeschichte und Germanistik an der Philosophischen Fakultät und der Abteilung Medizin an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät. Die Tagung findet im Pavillon Vert im Botanischen Garten statt, wir freuen uns über interessierte Zuhörer_innen.

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  • Website von Martina King

Author

Matthias Fasel ist Gesellschaftswissenschaftler, Sportredaktor bei den «Freiburger Nachrichten» und freischaffender Journalist.

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