Rechtswissenschaft – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Mon, 18 Nov 2024 16:50:48 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Alexandre Fasel, un homme heureux /alma-georges/articles/2024/alexandre-fasel-un-homme-heureux /alma-georges/articles/2024/alexandre-fasel-un-homme-heureux#respond Mon, 18 Nov 2024 15:24:40 +0000 /alma-georges?p=21427 Le docteur honoris causa 2024 de la Faculté de droit se décrit comme un fonctionnaire et un nominé heureux. Alexandre Fasel, diplomate de haut rang et actuel secrétaire d’Etat au Département fédéral des affaires étrangères ne cache pas avoir eu la larme à l’oeil au moment de la remise de sa distinction. Nous abordons avec lui les notions de diplomatie scientifique anticipatoire et ses liens de cœur avec l’Université de Fribourg.

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«In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden» /alma-georges/articles/2024/in-der-praxis-wird-zu-haufig-zulasten-der-umwelt-entschieden /alma-georges/articles/2024/in-der-praxis-wird-zu-haufig-zulasten-der-umwelt-entschieden#respond Tue, 09 Jan 2024 12:20:00 +0000 /alma-georges?p=19538 In ihrer Doktorarbeit hat sich Sian Affolter mit dem Verhältnis von Recht, Landwirtschaft und Umwelt auseinandergesetzt – und ist dafür mit dem Vigener-Preis ausgezeichnet worden. Im Interview erklärt sie, warum der Gesetzgeber vor grossen Herausforderungen steht.

«Der Umgang der Landwirtschaft mit der natürlichen Umwelt – de lege lata und de lege ferenda», lautet der Titel der Dissertation, für die Sian Affolter am Dies Academicus den Joseph Vigener-Preis überreicht bekam. Mit den Vigener-Preisen werden an der Universität Freiburg seit 1908 jedes Jahr herausragende Doktorarbeiten ausgezeichnet. Sian Affolter verfolgte in ihrer Arbeit zwei Ziele: Einerseits wollte die Juristin den Status Quo des schweizerischen Umweltagrarrechts abbilden, andererseits auch eine Grundlage für Diskussionen bieten, in welche Richtung sich dieses in Zukunft entwickeln könnte.

Wie kamen Sie auf die Idee für das Thema?
Ich bin im Luzerner Seetal aufgewachsen, das ist ein sehr ländliches Gebiet. Die überdüngten Mittellandseen sind dort seit meiner Kindheit ein Dauerthema. Entsprechend interessant und relevant finde ich das Verhältnis zwischen Recht, Landwirtschaft und Umwelt. Ausserdem bot sich das Thema an, weil es juristisch kaum abgedeckt wird – insbesondere die Schnittstelle zwischen Umweltrecht und Agrarrecht.

Eines der Ziele Ihrer Arbeit lautete, bestehende Defizite im Schweizer Recht aufzuzeigen. Was haben Sie herausgefunden?
Als Rechtswissenschaftlerin kann ich nur anschauen, wo die juristischen Probleme liegen, die Wirksamkeit bestimmter Instrumente zu bewerten ist nicht meine Aufgabe. Aber ich kann problematische Tendenzen erkennen und aufzeigen. Dazu habe ich das Verfassungsrecht, den hierarchisch obersten Rechtserlass, in Bezug auf den Umgang der Landwirtschaft mit der natürlichen Umwelt analysiert. Anschliessend habe ich mir eine Stufe darunter das Gesetzesrecht angeschaut und verglichen, ob der verfassungsrechtliche Auftrag und die gesetzliche Umsetzung miteinander übereinstimmen. Eine zentrale Feststellung meiner Dissertation ist: Die Verfassung verlangt vom Bund, dafür zu sorgen, dass die Landwirtschaft die ökologische Integrität wahrt. Das heisst, das System Umwelt darf nicht so weit beeinträchtigt werden, dass es sich nicht mehr selbst erholen kann. Ich denke, dass wir faktisch im Moment an einem Punkt angelangt sind, an dem das nicht mehr gewährleistet ist, weil die Landwirtschaft zu sehr in die Umwelt eingreift.

Wo liegt das Problem?
Nur bedingt im Bereich der Gesetzgebung, sondern in erster Linie beim Vollzug. Recht funktioniert so, dass es jeweils verschiedene Interessen abzuwägen gilt. Es gibt andere legitime Interessen, die in der Verfassung verankert sind. Ein klassisches Beispiel aus dem Bereich der Landwirtschaft ist die Versorgungssicherheit. Wenn es also um die Erstellung einer Schweinemastanlage geht, kann argumentiert werden, dass es der Versorgungssicherheit dient, wenn dort inländisch Schweinefleisch produziert wird. Gleichzeitig ist es für die Umwelt schädlich, die Ämter müssen bei ihrem Entscheid also abwägen. In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden – für diese Feststellung spricht jedenfalls die faktische Situation. Der Bundesrat sagt selbst, dass die verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen nicht immer gewahrt werden. Das spricht dafür, dass irgendwo ein Defizit besteht, die Waage oft auf die andere Seite kippt – Versorgungssicherheit ist ein attraktives Argument, das in der breiten Bevölkerung gut ankommt.

Müsste der Spielraum bei der Rechtsprechung eingeschränkt werden?
Zunächst gilt es festzuhalten: Es ist wichtig, bei der Gesetzgebung zuzulassen, dass im Einzelfall abgewogen wird. Es gibt keine Lösungen, die jedem Einzelfall gerecht werden. Aber was im Einzelfall womöglich zu einer zufriedenstellenden Lösung führt, ist in der Summe nicht zwangsläufig ebenfalls eine stimmige Lösung. Deshalb ist die Frage erlaubt, ob der Gesetzgeber die Abwägung manchmal nicht stärker anleiten sollte. Im Sinne des Umweltschutzes könnte er in gewissen Bereichen, zum Beispiel wenn es um Biodiversität geht, festlegen, dass dieses Interesse besonders stark zu gewichten ist.

Sie haben das Schweizer Recht auch mit dem EU-Recht verglichen. In welchen Bereichen könnte sich die Schweiz inspirieren lassen?
Die Rechtslage ist weitestgehend ähnlich. Ich konnte allerdings einige konkrete Unterschiede herausarbeiten, über die es sich nachzudenken lohnte. Einer davon ist der Lebensraumschutz. In diesem Bereich kennt die EU ein klares Verschlechterungsverbot. Festzuhalten, dass die Situation nicht schlechter werden darf, als sie aktuell ist, ist eine feine Anleitung für die Interessenabwägung im Vollzug – es werden Leitplanken gesetzt. Einen weiteren Unterschied gibt es bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, die in der EU zeitlich begrenzt ist, in der Schweiz nicht. Und dann wäre noch die Umweltverträglichkeitsprüfung. Darunter versteht man die Prüfung eines Projekts von gewisser Grösse, bei dem man davon ausgeht, dass es Auswirkungen auf die Umwelt haben könnte. In diesem formalisierten Verfahren werden vorgängig die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt eingehend geprüft, klassische Beispiele sind grosse Einkaufszentren oder Parkhäuser. In der Landwirtschaft hingegen ist in der Schweiz eine Umweltverträglichkeitsprüfung sehr selten. Die wird nur bei sehr grossen Ställen vorgenommen, das EU-Recht geht weiter, entsprechend fallen mehr Anlagen darunter.

In Ihrer Schlussfolgerung schreiben Sie, dass das Schweizer Umweltagrarrecht keine gravierenden Mängel aufweist, das grundlegende Problem, dass die landwirtschaftliche Produktion nicht mehr an die ökologischen Gegebenheiten angepasst ist, allerdings nach einer grundlegenden Reaktion schreit. Was stellen Sie sich darunter vor?
Es fehlt der gesamtheitliche, langfristige Ansatz. Den braucht es aber, um die ökologische Integrität zu bewahren. Es wäre wünschenswert, dass die gesetzgebenden Instanzen nicht bloss an verschiedenen Rädchen drehen, sondern von Zeit zu Zeit einen Schritt zurück machen, sich der rechtlichen Grundlagen besinnen und sich fragen: Was verlangt eigentlich die Verfassung von uns? Erfüllen wir das? Es wird hier ein Grenzwert für Pestizide angepasst, da festgelegt, wer wann düngen darf – aber es wird nicht die Frage gestellt, ob die Landwirtschaft vielleicht grundsätzlich überdacht werden sollte. Mir ist klar, dass das politisch schwer umsetzbar ist, aber es ist ein Privileg der Forschung, auch einmal den Idealzustand aufzeigen zu dürfen.

Wie sähe dieser Idealzustand denn aus?
Im Moment wird stark auf die einzelnen Probleme fokussiert und dann mit einem spezifischen Instrument darauf reagiert. Es wird zum Beispiel vor allem geschaut, wie die Landwirtschaft produziert, aber nicht, was. Zwar kann es nicht die Idee sein, den Leuten vorzuschreiben, was sie produzieren sollen, das würde auch rechtlich zu weit gehen. Statt mit Geboten und Verboten könnten wir jedoch durch eine indirekte Verhaltenssteuerung versuchen, Einfluss zu nehmen. Es wäre unter dem Aspekt des Umweltschutzes legitim, die Produktion gewisser Erzeugnisse mehr zu fördern und zu pushen als von anderen. Und es wäre interessant, sich die Frage zu stellen, wie indirekt der Konsum gesteuert werden könnte. Ändert sich die Nachfrage, ändert sich die Landwirtschaft. Ernährung hat einen Einfluss auf die Umwelt, und letztlich produziert die Landwirtschaft Nahrung, deshalb sollten wir in diesen Überlegungsstrang immer auch die Konsument_innen miteinbeziehen. Wir sollten uns die Frage stellen: Welche Lebensmittel wollen wir den Konsument_innen ans Herz legen? Ein klassisches Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung ist die Einführung von Labels. Es wäre beispielsweise ein Nachhaltigkeitslabel denkbar, das sich nicht nur auf die Herstellung, sondern auch auf das eigentliche Produkt bezieht. Das wäre gesamtheitliches Denken, da müssten wir manchmal mutiger sein.

Zum Schluss noch eine komplett unwissenschaftliche Frage: Der Vigener-Preis ist mit 2000 Franken dotiert, was machen Sie mit dem Geld?
Ich hatte das Geld im Hinterkopf, als ich mir kürzlich ein neues Zelt für die Veloferien gekauft habe. Sonst habe ich noch keine konkreten Pläne – aber auf jeden Fall habe ich jetzt wirklich ein tolles Zelt …

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Dies Academicus 2023 – «Je voulais devenir enseignant pour faire mieux» /alma-georges/articles/2023/dies-academicus-2023-je-voulais-devenir-enseignant-pour-faire-mieux /alma-georges/articles/2023/dies-academicus-2023-je-voulais-devenir-enseignant-pour-faire-mieux#respond Thu, 23 Nov 2023 14:09:10 +0000 /alma-georges?p=19326 La Faculté de droit a décerné au Professeur Pascal Ancel le titre honorifique de docteur honoris causa. Dans une entrevue exclusive, il partage des perspectives sur sa méthode exceptionnelle qui permet une comparaison plus précise et une meilleure compréhension de divers systèmes juridiques. Il témoigne également de son engagement en faveur des étudiant·e·s.

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In Zeiten der Säkularisierung /alma-georges/articles/2023/in-zeiten-der-sakularisierung /alma-georges/articles/2023/in-zeiten-der-sakularisierung#respond Wed, 13 Sep 2023 10:58:08 +0000 /alma-georges?p=18856

Eine steigende Zahl von Menschen in der Schweiz verzichtet auf eine Konfessionszugehörigkeit, und damit stellt sich eine wichtige Frage: Ist das bestehende Verhältnis zwischen Staat und Religion noch zeitgemäss? Die Beiträge in diesem Sammelband, das von René Pahud de Mortanges und Lorenz Engi herausgegeben wurde, gehen dieser Frage nach.

Auszug
«Die Zahl der Personen ohne Konfessionszugehörigkeit steigt in der Schweiz kontinuierlich an. Für das Religionsverfassungsrecht bedeutet das eine Herausforderung, denn es ist auf die Religionsgemeinschaften ausgerichtet und berücksichtigt die Konfessionslosen bisher kaum. Es stellt sich daher die Frage, ob das bestehende Verhältnis von Staat und Religion in absehbarer Zeit auch in dieser Hinsicht einer Anpassung bedarf.»

Worum geht es in diesem Buch?
Das Buch behandelt die Frage, wie das Recht und der Staat auf die wachsende Anzahl von Konfessionslosen reagieren sollen. Der Sammelband behandelt diese Frage aus verschiedenen Perspektiven: Autoren aus dem Bereich der Religionssoziologie erklären die gesellschaftliche Situation, juristische Autor_innenbeleuchten die Auswirkungen auf das Rechtssystem, und Vertreter von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften legen ihre Sicht dar.

Warum muss man dieses Buch gelesen haben?
Die Zunahme der Personen ohne Konfessionszugehörigkeit ist im Moment die wichtigste Entwicklung im Bereich der Religion. Spielten die Menschen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, bis vor einigen Jahrzehnten noch fast gar keine Rolle, so liegt ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz heute schon bei über 30 Prozent. Der Staat jedoch ist in seinen Beziehungen immer noch stark auf die grossen Kirchen ausgerichtet, die in vielen Kantonen Steuergelder der juristischen Personen und Staatsgelder erhalten. Lässt sich dieses System halten? Welche Anpassungen braucht es im Finanzierungssystem? Wie muss zum Beispiel die Seelsorge in den Spitälern gestaltet werden, wenn so viele Menschen nicht mehr religiös sind? Und wie muss ein zeitgemässer Religionsunterricht aussehen? Diese Fragen sind sehr aktuell und müssen beantwortet werden.

René Pahud de Mortanges

Lorenz Engi

René Pahud de Mortanges/Lorenz Engi (Hrsg.) (2023): In Zeiten der Säkularisierung – Herausforderungen für das Verhältnis von Staat und Religion. Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht FVRR. Zürich: Schulthess Verlag.

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Doris Angst, im Einsatz für die Menschenrechte /alma-georges/articles/2022/doris-angst-im-einsatz-fur-die-menschenrechte /alma-georges/articles/2022/doris-angst-im-einsatz-fur-die-menschenrechte#respond Tue, 29 Nov 2022 10:38:26 +0000 /alma-georges?p=17172 Für ihren unermüdlichen Einsatz zum Schutz der Menschenrechte und im Kampf gegen Diskriminierung erhielt Doris Angst den Ehrendoktortitel der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Im Gespräch mit Alma&Georges spricht sie über ihren Antrieb – und über ihre Verbindung zur Unifr.

Sie sind eine der ausgezeichneten Personen unseres Dies Academicus 2022. Wie haben Sie sich an diesem Festtag gefühlt?
Der Tag gestaltete sich äusserst festlich, inklusive der Talare von Rektorin und Dekanen. Die grosse lateinische Urkunde in der Rolle, die uns Geehrten übergeben wurde, war traditionell – das darf es auch für einmal sein. Die Fakultät und besonders Dekan Hubertus Stöckli vermittelten mir eine echte Zugehörigkeit. Ich fühlte mich sehr geehrt – auch in der Runde der anderen ausgezeichneten Personen. Thematisch am nächsten waren mir der Schriftsteller Lukas Bärfuss und Prof. Marie-Jo Thiel mit ihrer Forschung zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Gerne hätte ich mich an dem Tag, an welchem alle fünf Geehrten anwesend waren, für einen kurzen Moment persönlich mit den anderen unterhalten, wozu es leider keine Gelegenheit gab. Beeindruckt hat mich die gelebte Zweisprachigkeit, der sich die Universität verschrieben hat. Das gemeinsam gesungene «Gaudeamus igitur» bildete einen bewegenden Abschluss der Feier in der Aula Magna.


Was bedeutet es in einer Karriere wie der Ihren, einen Ehrendoktortitel zu erhalten?
Schon im fortgeschrittenen Alter stehend darf ich das Ehrendoktorat als Würdigung meines Einsatzes für das Zusammenleben zwischen Mehrheit und Minderheiten und gegen Diskriminierung ansehen. Ich war in verschiedenen Bereichen quasi als Pionierin unterwegs. Oft folgte ein gewisser gesellschaftlicher Wandel in der angestrebten Richtung erst 15-20 Jahre später, sei es in der Begleitung von Asylsuchenden, in der Erkenntnis, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, usw. Als Vorläuferin wird man nicht mit Lorbeeren überschüttet. Auch folgte mein Lebensweg nicht den üblichen institutionell vorgegebenen Wegen, sondern nahm einige Umwege, die aber schliesslich auch meiner Forschungstätigkeit zugutekamen.

Ich war erfreut festzustellen, dass ich die vier Frauen, welche von der Fakultät in den letzten Jahren mit dem Dr. h.c. geehrt wurden, alle persönlich kennenlernen durfte: Dr. Margrith Bigler-Eggenberger (erste Bundesrichterin), Navanethem Pillay (ehemalige UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte), Ursula Müller-Biondi (Vorreiterin für eine Wiedergutmachung an die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen), Prof. Helen Keller (u.a. Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). Uns verbinden die Menschen- und Frauenrechte!

Was hat Sie im Laufe Ihrer Karriere mit der Universität Freiburg verbunden?
Es ergaben sich über die Jahre Schnittstellen in den Forschungsinteressen: Prof. Damir Skenderovics’ Arbeiten zu Rechtsextremismus waren und sind für meine Lehrtätigkeit an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit zu ideologisch extremistischer Gewalt von Bedeutung. Prof. Marcel Alexander Niggli und Prof. Samantha Besson standen mit ihrer Forschung mit der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) in Verbindung, Herr Niggli durch seinen Kommentar zum Strafrechtsartikel 261bis StGB Rassendiskriminierung (heutiger Titel: Diskriminierung und Aufruf zum Hass), Frau Besson als zeitweiliges Mitglied der EKR, deren erste Geschäftsführerin ich war. Prof. Bernhard Waldmann seinerseits verfasste Gutachten zu institutioneller rassistischer Diskriminierung. Schliesslich lernte ich als Vizepräsidentin des Beirats des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) Prof. Eva Maria Belser kennen, die Mitglied des Direktoriums ist. In Programmen des Zentrums Islam und Gesellschaft leitete ich mehrmals Workshops; auch sprach ich am Institut de plurilinguisme über den Schutz nationaler Minderheiten.

Kann man sich nach einer solchen Auszeichnung ausruhen oder haben Sie immer neue Pläne?
Nun, mit 70 kann man sich die Arbeit etwas aussuchen. Ich bin Mitglied einer vom EDA geleiteten Arbeitsgruppe zur Ausgestaltung der im Entstehen begriffenen Schweizer Nationalen Menschenrechtsorganisation nach Vorgaben der UNO, den sog. «Pariser Prinzipien». Den entsprechenden Gesetzestext dazu hat das Parlament im Oktober 2021 verabschiedet. An der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit unterrichte ich zu den Themen Rassismus und extremistische Gewalt. Ich kann mich jeweils nicht über mangelndes Interesse der Studierenden beklagen, denn beide Phänomene sind in der Gesellschaft präsent und Sozialarbeitende können damit konfrontiert werden. Weiter lockt mich ein Forschungsthema, das ich aus dem Handkommentar zum Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung (publiziert 2020) ableite.

Was würden Sie jungen Studierenden raten, die eine ähnliche Karriere anstreben?
Wie ich zu Anfang ausführte, verlief meiner eigener Weg nicht sehr gradlinig auf einer Karriereleiter. Ich bin der Meinung, dass der Ausbau des Schutzes vor Diskriminierung in der Schweiz in Zukunft ein spannendes und lohnendes Thema für Jurist_innen und Soziolog_innen darstellt. Unser Land weist in diesem Bereich beachtlichen Nachholbedarf aus. Um die nötigen Rechtsmittel auszubauen, sind Forschung und Lehre nötig, welche bestehende Diskriminierungen, deren Vorhandensein von der Politik weitgehend beiseitegeschoben wird, greifbar machen.

Die Menschenrechte stehen heute durch autoritäre Regimes und populistische Tendenzen vermehrt unter Druck. «Wir brauchen die Menschenrechte – Die Menschenrechte brauchen uns» lautet mein Motto, d.h. wir müssen die Menschenrechte hochhalten und immer wieder vor Angriffen verteidigen, damit wir gegebenenfalls ihren Schutz in Anspruch nehmen können.

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Wer ist der Parasit? /alma-georges/articles/2022/wer-ist-der-parasit /alma-georges/articles/2022/wer-ist-der-parasit#respond Tue, 11 Oct 2022 08:32:49 +0000 /alma-georges?p=16632 Wie wird das Recht im Film dargestellt? Die Auswahl der Rechtswissenschaftlichen Fakultät präsentiert Ihnen jedes Jahr sechs Vorführungen mit je einem bestimmten Thema, die zum Entdecken einladen. Mit Prof. Eva Maria Belser haben wir über das diesjährige Sujet Krisen gesprochen. Die Film-Vorführungen stehen übrigens allen Interessierten unserer Universitätsgemeinschaft offen!

Eine Filmreihe zum Thema Krise … Wenn eine Krise nach der anderen kommt, ist das nicht sehr amüsant!
Wir haben schön etwas gezögert, ob wir wirklich das Thema Krise wählen sollen, weil wir doch ein wenig krisengesättigt sind. Wir haben dann aber gefunden, dass wir den Dialog suchen wollen zwischen Filmkunst und Recht. Bei der Filmauswahl haben wir aber darauf geachtet, dass wir nicht eine ganze Zahl erdrückender Filme haben. Wir haben auch humorvolle Filme, Satire-Filme … und wollen Krise durchaus auch als Chance diskutieren; als chaotische Möglichkeit, etwas Neues zu entwickeln.

Wie haben Sie Ihre Auswahl getroffen?
Michel Heinzmann und ich können nicht gleich tausend Filme selektionieren, aber wir haben doch einen langen Prozess der Filmselektion durchlaufen und haben uns auch von Lucie Bader beraten lassen. Wir sind ein ganzes Team; mit Assistentinnen und Assistenten, die recherchieren. Und bevor wir das Programm gemacht haben, haben wir als Team tatsächlich auch Filmabende gemacht. Wir haben viele Filme visioniert, verworfen, weitergesucht … Es war doch ein monatelanger Prozess, bis das Programm stand.

Kann das Recht Krisen verhindern? Inwiefern zeigt sich das in den Filmen?
Genau diese Frage möchten wir diskutieren. Uns interessieren nicht die Krisen an sich, sondern welche die Rolle des Rechts darin ist. Wann muss man Krisen voraussehen? Wie kann man aus Rechtsordnung Krisen verhindern? Vielleicht Folgen von Krisen abwenden oder mildern? Sind wir überhaupt richtig unterwegs in Bezug auf die Krisen, die wir hier vor der Tür haben? Covid haben wir jetzt extra nicht thematisiert, auch nicht Krisen wie Krieg oder Klima, denn wenn wir an Krisen denken, denken wir auch an Identitätskrisen, Beziehungskrisen, Entwurzelungskrisen … und möchten uns bei jedem Thema diese Fragen stellen: Was betrifft uns? Was ist die Rolle des Rechts? Wo kann es unterstützen, fördern, schützen? Und machen wir das eigentlich richtig?

Aktueller geht es nicht: Sie zeigen einen Film, der eine Ukrainerin porträtiert, die in der Schweiz Zuflucht findet. Was hat das Recht mit dieser Geschichte zu tun?
Das war unser Eröffnungsfilm. Wir haben uns gesagt: Wenn wir Krise thematisieren, dann müssen wir die Ukraine zum Thema machen. Wir haben es gemacht anhand dieses preisgekrönten Schweizer Films Olga, der nicht die jetzige Kriegssituation behandelt, sondern die Euromaidan-Revolution. Wir hatten unsere Migrationsexpertin Sarah Theuerkauf dabei, die uns z.B. den Schutzstatus erläutert hat, den Personen, die aus der Ukraine haben flüchten müssen und in die Schweiz gekommen sind, jetzt geniessen. Dieser wurde zum ersten Mal in der Geschichte aktiviert. Wir haben versucht zu verstehen, was das bedeutet und in Kontext gesetzt zu den Geschehnissen in der Ukraine bis zum heutigen Tag. Das Recht ist hier in vielfältiger Weise involviert: Fragen zum Schutzstatus, der Sanktionen gegenüber Russland, Neutralität, Reisebeschränkungen … Das Recht ist mittendrin.

In Woman at War geht es auch um zivilen Ungehorsam. Was sagt das Recht dazu? Dura lex sed lex oder verdient die Dringlichkeit der Klimakrise im Gegenteil eine gewisse Nachsicht, wie im Prozess gegen die jungen Aktivist_innen bei der Credit Suisse?
Ich will das jetzt nicht vorwegnehmen, weil das in zwei Wochen grosses Diskussionsthema sein wird. Ich glaube nicht, dass unsere Rechtsordnung im Moment eine Antwort bereithält. Es gibt Städte und Kantone, Staaten und Provinzen, die den Klimanotstand erklärt haben. Aber welche Bedeutung das rechtlich genau hat, ist nicht klar. Wahrscheinlich muss man auch differenzieren, welche Bedeutung es im öffentlichen Recht hat, für die Dringlichkeitsgesetzgebung und für das Strafrecht. Aber wir freuen uns sehr auf die Diskussion. Wir werden unseren Alumnus Raphael Mahaim hier haben. Er ist einer der Anwälte, der damals in Lausanne die Jugendlichen verteidigt hat, die in der Credit Suisse Tennis gespielt haben. Er wird nach dem Film genau über diese Frage referieren.

Der Film Parasite scheint zu zeigen, dass Armut manche Menschen dazu zwingt, das Gesetz zu brechen: Man kann z.B. dazu gezwungen sein, zu stehlen, um sich zu ernähren.
Das ist ein ausgezeichneter Film aus Südkorea, der tatsächlich eine Krise thematisiert, die wir wahrscheinlich vernachlässigen, weil wir den spektakulären Krisen hinterherrennen. Es geht um die Krise der wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten; weltweit ohnehin, aber auch innerhalb jedes Staates. Der Film porträtiert eine sehr reiche Familie – in anderen Ländern würde man von einer Oligarchen-Familie sprechen – und eine Familie am unteren Ende der Skala. Tatsächlich ist diese Familie, weil das soziale System zu wenig stark ist, darauf angewiesen, sich 貹ä an diese reiche Familie anzudocken. Das Schöne am Film ist aber, dass man am Ende nicht weiss, wer denn nun genau der Parasit ist. Ist nicht jene Familie der Parasit, die von Anfang an diese Ungleichheit hat erzeugen lassen? Es ist ein wunderbarer Film, weil diese ganze Hierarchie unserer Gesellschaft auch filmisch wunderbar in Szene gesetzt wird: Es gibt immer Treppen nach oben, nach unten, Obergeschoss, Keller … Und es ist ein Film, der dauernd dreht und überrascht: Wer ist jetzt Opfer? Wer ist Täter? Als Zuschauer_innen werden wir sehr herausgefordert.

Welcher Film hat Ihnen am besten gefallen und warum?
Wir haben viele Filme erst ausgewählt und nach dem Anschauen und langen Diskussionen wieder verworfen. Ich muss sagen, dass ich mich in jeden dieser sechs Filme, die wir zeigen, verliebt habe. Ich bin von jedem einzelnen begeistert. Wenn ich aber spontan einen Lieblingsfilm wählen müsste, würde ich Parasite nehmen. Gerade, weil mich diese soziale Frage und die filmische Darstellung einfach völlig begeistern.

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Des handicapé·e·s exclu·e·s du corps électoral /alma-georges/articles/2021/des-handicape%c2%b7e%c2%b7s-exclu%c2%b7e%c2%b7s-du-corps-electoral /alma-georges/articles/2021/des-handicape%c2%b7e%c2%b7s-exclu%c2%b7e%c2%b7s-du-corps-electoral#respond Wed, 01 Dec 2021 15:52:23 +0000 /alma-georges?p=14913 Professeur de droit à l’Université de Fribourg, Adriano Previtali est le premier à le reconnaître: l’intégration des personnes en situation de handicap dans la société a fait des progrès sensibles ces dernières décennies. Il n’empêche, le handicap, en particulier mental, reste difficilement compris, voire accepté. Des milliers de personnes placées sous curatelle se retrouvent même privées de leurs droits politiques.

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Meilenstein für den Rechtsschutz im Asylbereich /alma-georges/articles/2021/meilenstein-fur-den-rechtsschutz-im-asylbereich /alma-georges/articles/2021/meilenstein-fur-den-rechtsschutz-im-asylbereich#respond Mon, 29 Nov 2021 08:43:22 +0000 /alma-georges?p=14858 Die Rechtswissenschaftliche Fakultät hat Mario Gattiker, Staatssekretär des neuen Staatssekretariats für Migration, aufgrund seiner grossen Expertise im Migrationsrecht ausgezeichnet. Er gestaltete grundlegende Konzepte mit wie z.B. die im Rahmen der Neustrukturierung des Asylverfahrens eingeführte unentgeltliche Rechtsvertretung für Asylsuchende, welche einen Meilenstein für den Rechtsschutz im Asylbereich darstellt.

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  • Copyright image de une: Stéphane Schmutz /
  • du Dies academicus

 

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«Was bringt es, zu wissen, ob ein Mensch als Mann oder als Frau geboren wurde?» /alma-georges/articles/2021/was-bringt-es-zu-wissen-ob-ein-mensch-als-mann-oder-als-frau-geboren-wurde /alma-georges/articles/2021/was-bringt-es-zu-wissen-ob-ein-mensch-als-mann-oder-als-frau-geboren-wurde#respond Mon, 12 Apr 2021 09:04:25 +0000 /alma-georges?p=13534 Recht ist nicht immer gerecht. Nula Frei von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Unifr und Nils Kapferer, Doktorand am Europainstitut der Unibas, erklären im Interview, warum sie in ihrem FRI-Lesekreis einen queerfeministischen Ansatz versuchen.

Wer steckt hinter dem FRI-Lesekreis und für wen wurde er gegründet?
Nils Kapferer: Das FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law – geht auf die Initiative von feministischen Juristinnen in den 1990er Jahren zurück und wird aktuell von einer vielfältig zusammengsetzten Gruppe von Jurist_innen getragen.

Im Jahr 2019 haben zwei Mitglieder des FRI, Sofia Balzaretti von der Unifr und ich von der Uni Basel beschlossen, Möglichkeiten des Austausches rund um Texte – juristische und/oder soziologische anzubieten, die eine Reflexion über das Recht aus einer Gender-Perspektive ermöglichen. Da Sofia Balzaretti für ihre Dissertation ins Ausland ging, hat sich Nula Frei bereit erklärt, zusammen mit mir diese Treffen weiterzuführen.

Der FRI-Lesekreis ist interdisziplinär und offen für alle, die aus einer feministischen und queeren Perspektive darüber nachdenken wollen, was das Recht in unserer Gesellschaft ist und tut. Er ist in erster Linie für Jus-Studierende gedacht, aber auch Studierende anderer Fachrichtungen sind herzlich willkommen. Der FRI-Lesekreis ist auch offen für Menschen, die sich wissenschaftlich mit dem Thema befassen oder einfach nur diese Momente des Austauschs nutzen wollen.

Nils Kapferer, Unibas

Wonach fragt eine feministische und queere Rechtskritik?
Nils Kapferer: Das Recht, nicht nur in seiner Anwendung, sondern auch im Studium, ist – wie viele Bereiche der Gesellschaft – von Menschen produziert, gedacht und analysiert worden, die sich meist als männlich, heterosexuell und cisgender identifizieren, aus wohlhabendem Hause und, wie so häufig in der Schweiz, weiss sind. Diese Realität hat über Jahrhunderte geprägt, was das Recht ist und wie es gedacht wird. Es ist notwendig, andere Ansätze – in unserem Fall feministische und queere – zu entwickeln, um darüber nachzudenken, was das Recht ist. Auch wenn sich das langsam ändert, ist ein feministischer Ansatz an den Juristischen Fakultäten der Schweiz immer noch schlecht vertreten. Von einem queeren Ansatz ganz zu schweigen! Den FRI-Lesekreis gibt es mit dem Ziel, einen Diskussionsraum anzubieten, der es uns ermöglicht, diesen feministischen und queeren Ansatz bekannt zu machen und weiterzuentwickeln. Darüber hinaus möchte der FRI-Lesekreis auch eine interdisziplinäre Perspektive entwickeln, insbesondere durch die Lektüre von Texten aus der Rechtssoziologie.

Was sind die konkreten Forderungen oder Ziele einer solchen Rechtskritik?
Nils Kapferer: Alle Rechtsgebiete sind für einen feministischen und queeren Ansatz geeignet. Wenn man sich mit der Gesetzgebung auseinandersetzt, ist es immer notwendig, den Kontext zu berücksichtigen, in dem sie geschrieben wurde. Wer hat das Gesetz erlassen? Für wen wurde es erlassen? Wer wird davon profitieren? Manchmal mag ein Gesetz neutral erscheinen, weil es sich an die gesamte Bevölkerung richtet, aber seine konkreten Auswirkungen betreffen nicht alle Menschen in gleicher Weise.

Zum Beispiel kann ein Gesetz, das darauf abzielt, die Ladenöffnungszeiten zu verlängern, neutral erscheinen. Aber in Wirklichkeit, wenn wir uns den Text und seine Folgen etwas genauer ansehen, wird klar, dass es Frauen sind, die von dieser Erweiterung am meisten betroffen sind. Tatsächlich sind 66% (2018, BFS) der im Detailhandel tätigen Personen Frauen. Ausserdem übernehmen Frauen in Haushalten mit Kindern immer noch 69 % der Hausarbeit (2018, BFS). Zum Schluss sind es in 84 % der Fälle Frauen, die eine Familie mit nur einem Elternteil führen (2017, BFS). Eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten trifft daher vor allem Frauen, die in Zeiten, in denen keine Kinderbetreuungseinrichtungen geöffnet sind, Lösungen finden müssen. Um auf diese Weise über das Recht zu denken, ist es notwendig, die Gender-Brille aufzusetzen, aber auch in der Lage zu sein, «ausserhalb des Rechts» zu denken, also mit Hilfe anderer Disziplinen wie Soziologie, Geschichte, Psychologie, etc.

Nula Frei, Unifr

In welchen Bereichen des Rechts sind die grössten Missstände festzustellen?
Nula Frei: Ich sehe die feministische und queere Rechtskritik als ein Analysetool, ein bestimmter Blick auf die Welt, der Machtstrukturen identifiziert und uns somit ein besseres Verständnis des Rechts erlaubt. Insofern lassen sich sämtliche Bereiche des Rechts queer-feministisch analysieren, und hier liegen viele Bereiche noch brach, etwa im besonderen Verwaltungsrecht. Die brennendsten Fragen stellen sich derzeit sicherlich in Bezug auf den Umgang des Rechts mit geschlechtsspezifischer oder sexualisierter Gewalt, dann die fehlende Anerkennung von Care-Arbeit und der ganze rechtliche Rattenschwanz, der daraus folgt (z.B. im Sozialversicherungs- oder im Steuerrecht) sowie die immer noch existierenden, aber mit den derzeitigen rechtlichen Mitteln kaum bekämpfbare Diskriminierung am Arbeitsplatz. Schliesslich auch die rechtlich immer noch stark verankerte Zweigeschlechtlichkeit bzw. Binarität.

In Deutschland gibt es seit Ende 2018 die sogenannte «Dritte Option». Beim Eintrag ins Personenstandsregister können Menschen zwischen «männlich», «weiblich und «divers» wählen, oder gar keine Angabe machen. Wie finden Sie das und wo stehen wir aktuell in der Schweiz?
Nils Kapferer: In der Schweiz hat der Bundesrat eine Änderung des Zivilgesetzbuches vorgeschlagen, der sich mit dem Personenstand befasst, um die administrative Transition von Personen zu erleichtern, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde – das ist aber noch nicht in Kraft. Der Bundesrat hat in der Vernehmlassung betont, dass diese Änderung die Geschlechterbinarität nicht in Frage stellt und dass er diese Frage in seiner Antwort auf zwei 2017 eingereichte Postulate, die sich speziell mit dieser Frage befassen, angehen will.

Die Notwendigkeit der Angabe einer Geschlechtsidentität im Personenstand wirft viele Fragen auf: Was bringt es, zu wissen, ob ein Mensch als Mann oder als Frau geboren wurde? Ist es nicht so, dass die Festlegung des Geschlechts eines Menschen bei der Geburt bereits der Beginn einer spezifischen Sozialisation und von zahlreichen Diskriminierungen ist?

Darüber hinaus ergeben sich aus diesen Überlegungen auch pragmatische Bedenken, insbesondere in Bezug auf die Erstellung von Statistiken. In der Tat befürchten einige, dass es ohne Statistiken nicht mehr möglich sein wird, die Ungleichheiten aufzuzeigen, unter denen z. B. Frauen leiden, und dass es daher nicht mehr möglich sein wird, öffentliche Politik in verschiedenen Bereichen wie der Gleichstellung der Geschlechter zu betreiben.

Auf der einen Seite haben wir das Recht auf Gleichheit, auf der anderen Forderungen nach Berücksichtigung und Anerkennung von Differenzen – Ein Paradoxon?
Nula Frei: Diese beiden vermeintlich widersprüchlichen Forderungen haben die Gerichte schon vielfach beschäftigt, etwa wenn es um die Zulässigkeit von «Frauenquoten» ging oder um das Recht muslimischer Frauen, eine Vollverschleierung (Niqab) zu tragen. Zur Auflösung dieser Widersprüche führen Gerichte in der Regel eine Güterabwägung zwischen den sich widersprechenden Interessen durch, wobei man sagen kann, dass sie in der Tendenz dem Recht auf Gleichheit einen höheren Stellenwert einräumen als der Anerkennung von Differenz.

Wie sinnvoll ist eine genderneutrale Sprache im Recht?
Nula Frei: Die Rechtssprache und die gendergerechte Sprache haben eines gemeinsam: Sie streben nach sprachlicher Präzision. Insofern gilt auch im Recht: Betrifft eine Regelung nur Männer? Dann (und nur dann) sollte auch das Maskulinum verwendet werden. Betrifft sie alle Personen unabhängig von ihrem Geschlecht? Dann sollte eine neutrale Formulierung gefunden werden. Offizielle Rechtstexte in der Schweiz arbeiten zumeist mit der Beidnennung, z.B. «Bürgerinnen und Bürger». Hier ist die Schweiz fortschrittlicher als viele andere Länder, die in Rechtstexten immer noch das generische Maskulinum verwenden; die Beidnennung wird uns aber vor Herausforderungen stellen, sollte die «Dritte Option» dereinst in der Schweiz eingeführt werden.

Wie können Studierende oder die Gesellschaft allgemein für solche Themen sensibilisiert werden?
Nula Frei: Generell wird derzeit in der Öffentlichkeit wieder mehr über Geschlechter-Themen gesprochen als noch vor fünf Jahren, allerdings sind die Diskussionen leider häufig sehr polarisiert. Schön wäre es, wenn auch im Jus-Studium die Geschlechterdimensionen des Rechts häufiger angesprochen würden, denn wie gesagt gibt es kein einziges Rechtsgebiet, das nicht auch eine Geschlechterkomponente hat, und einmal eine feministische und queere Perspektive einzunehmen eröffnet spannende analytische Einsichten.

Glossar

Gender: Damit gemeint ist die soziale Dimension des Geschlechts. Gender spiegelt Pflichten, Eigenschaften und Erwartungen einer Gesellschaft wider.
Queerfeminismus/-feminismen:
Feministische Ansätze, der sich auf feministische Theorie und Queer-Theorie bzw. den Queer Volg beziehen.
cis/cisgender/cis Person: Person, bei der die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
trans/transgender:
Oberbegriff für alle Menschen, deren Geschlechtsidentität (teilweise) nicht dem ihnen körperlich zugeordneten Geschlecht entspricht.

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  • von Genderlaw, Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law
  • mit den Veranstaltungen des FRI-Lesekreises
  • von Nula Frei
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Tennis in einer Bankfiliale: eine Rechtsfrage, die nicht naturwissenschaftlich zu beantworten ist /alma-georges/articles/2020/tennis-in-einer-bankfiliale-eine-rechtsfrage-die-nicht-naturwissenschaftlich-zu-beantworten-ist /alma-georges/articles/2020/tennis-in-einer-bankfiliale-eine-rechtsfrage-die-nicht-naturwissenschaftlich-zu-beantworten-ist#respond Thu, 08 Oct 2020 15:04:34 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=11677 Leute mit unterschiedlichstem wissenschaftlichem Hintergrund diskutieren gemeinsam über ein spezifisches Thema: Das ist das Konzept einer neuen Veranstaltungsreihe am Smart Living Lab. Inspiriert vom Prozess gegen die tennisspielenden Klimaaktivist_innen, ging es am Dienstag bei der Premiere um rechtsphilosophische Fragen – und um das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik.

«Im Idealfall konnte der eine oder andere seinen Horizont erweitern», sagte nach der ersten Ausgabe des «Smart Living Lab’s Round Table». Beyeler ist ordentlicher Professor am Lehrstuhl für Infrastrukturrecht und neue Technologien an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg. Und er war am Dienstag für Themenauswahl und Gesprächsleitung zuständig. Seine Wahl: «Science and Law: What is – and what ought to be.» Als Ausgangspunkt der Diskussion diente der Fall der Klimaaktivist_innen, die 2018 in Lausanne eine Filiale der Credit Suisse besetzten und dort Tennis spielten. Ein Fingerzeig in Richtung Roger Federer, der von der Grossbank gesponsert wird. Und ein Protest gegen die ihrer Meinung nach umweltfeindliche Investitionspolitik der Credit Suisse. Anfang Jahr hatte das Bezirksgericht Lausanne die Aktivist_innen überraschend freigesprochen. Die Begründung: Der Klimanotstand rechtfertige den an sich rechtswidrigen Hausfriedensbruch.

Ein weltweit viel beachtetes Urteil, das kürzlich in zweiter Instanz vom Waadtländer Kantonsgericht aufgehoben wurde. Viel Diskussionsbedarf – nicht nur für Jurist_innen. Die Diskussionspartner von Martin Beyeler am runden Tisch waren denn auch nicht etwa andere Jurist_innen, sondern Architekt_innen, Ingenieur_innen, Politikwissenschaftler_innen – oder auch Martin Gonzenbach, Physiker und operativer Direktor des Smart Living Lab. «Man kann ein Thema immer aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachten, das macht dieses Format so interessant. Das ganze Smart Living Lab beruht ja auf der Idee der Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen», erklärt Beyeler. Das Forschungszentrum bei der Bluefactory ist eine Kollaboration zwischen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg sowie der Universität Freiburg. Es geht um das Wohnen der Zukunft, um Bautechnologien, um Designprozesse und Energiesysteme – und manchmal eben auch um Klimaproteste.

Das Bundesgericht wird die Verurteilung vermutlich bestätigen
Das Thema passe gut zum Smart Living Lab, sagt Beyeler. «Der Blick auf den Energieverbrauch und die Ressourcen ist bei der Forschung am Lab sehr wichtig. Nachhaltigkeit ist etwas, das uns alle beschäftigt.» Entsprechend oft sei er in den letzten Wochen auf den Fall in Lausanne angesprochen worden. «Dabei bin ich ja ebenfalls kein Experte für Strafrecht.» Als Gesprächsleiter betrachtete er sich deshalb nicht als Experte, sondern als Inputgeber. Die Inputs fruchteten. Eineinhalb Stunden wurde angeregt diskutiert, eine halbe Stunde länger als geplant. «Die Ausgangslage ist interessant. Alle sind sich einig, dass es eine Straftat ist, eineinhalb Stunden lang eine Bank zu besetzen, selbst die Besetzer selbst», sagte Beyeler zu Beginn.Wie auch in anderen Staaten, gibt es allerdings im Schweizer Recht einen Artikel, der ein an sich strafbares Verhalten für rechtmässig erklärt, wenn es aus höheren Gründen unausweichlich und angemessen ist (Artikel 17 Strafgesetzbuch). Klassisches Beispiel: Das Eindringen in eine Alphütte, um sich vor einem lebensgefährlichen Gewitter zu schützen.

Trifft das auch auf den Klimaprotest zu? Gibt es in der Schweiz wirklich keine andere Möglichkeit, auf die Klimaproblematik genügend aufmerksam zu machen, als durch eine Straftat? Hilft eine PR-Aktion unmittelbar gegen den Klimawandel? Wenn ich im Gebäude der Credit Suisse Tennis spielen darf, darf ich dann auch bei einem Credit-Suisse-Kunden im Wohnzimmer Tennis spielen? Über all diese Fragen diskutierte die zehnköpfige Gesprächsrunde ausgiebig – und war mehrheitlich der Meinung, dass es sehr heikel ist, einer solchen Aktion rechtliche Legitimität zu verleihen. Auch mit Blick auf die Konsequenzen. Bei einer ähnlichen Aktion wäre die Aufmerksamkeit das nächste Mal wohl nicht mehr so gross. Die Aktionen drohten dadurch immer extremer zu werden. Beyeler selbst wollte keine klare persönliche Beurteilung des Falls vornehmen. Er gab aber die Einschätzung ab, das Bundesgericht werde die Verurteilung vermutlich bestätigen.

Deskriptiv versus normativ oder der Unterschied von Wissenschaft und Politik
Der Rechtsprofessor wies darauf hin, dass manche der Meinung sind, das Kantonsgericht Waadt nehme die Dringlichkeit und die Bedeutung des Klimawandels nicht ernst genug, und es hätte für die Erkenntnisse der Wissenschaft viel offener sein sollen. Seiner Meinung nach dreht sich der Prozess zur Hauptsache aber nicht um die naturwissenschaftliche Frage, ob der Klimawandel stattfindet, und wozu er zu welchem Zeitpunkt führen wird, sondern darum, ob das Tennisspielen in der Bankfiliale eine nützliche und trotz Vorhandenseins von legalen Mitteln unumgängliche Handlung zur Rettung von Menschenleben darstellt. Eine Rechtsfrage, die nach Auffassung von Beyeler nicht naturwissenschaftlich zu beantworten ist.

Die Runde diskutierte deshalb auch über das Verhältnis zwischen Recht, Politik und Wissenschaft. «Es gibt zwei verschiedene Welten», sagte Beyeler nach der Veranstaltung dazu. «In der einen beschreiben wir, was passiert, in der anderen geht es nicht darum, was passiert, sondern was passieren sollte.» Diese Trennung sei selbst für Juristen nicht immer klar und einfach. «In meinem Unterricht ist sie jedoch zentral, es ist wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen.»

Eine Vermischung findet Beyeler mitunter problematisch. «Ich wünschte mir, dass wir alle klarer trennten zwischen naturwissenschaftlichen Aussagen, mit denen wir die Welt beschreiben und deren Widerlegung wir diskussionslos hinnehmen, sowie normativen Aussagen, mit denen wir unsere Idealvorstellungen der Welt beschreiben und bezüglich deren wir uns in der Regel nicht widerlegen lassen wollen. Wer behauptet, was ist, macht Wissenschaft. Wer behauptet, was sein soll, macht Politik, Moral oder Recht.»

Vom Gesprächsleiter zum Laien
Womöglich hätten die übrigen Teilnehmer_innen einen Einblick in das Denken von Jurist_innen erhalten, sagte Beyeler im Anschluss an die Diskussion. «Das wäre schön. Bei uns am Smart Living Lab kommen Leute aus vielen Ländern und zahlreichen Disziplinen zusammen: Architektur, Recht, Soziologie, Wirtschaft – da muss man eine gemeinsame Sprache finden, um zu verstehen, wie der andere tickt. So kann man anschliessend besser zusammenarbeiten.» Der nächste runde Tisch am Smart Living Lab findet im November zum Thema Energieeffizienz statt. Dann wird Martin Beyeler nicht mehr Gesprächsleiter, sondern einfacher Diskussionsteilnehmer sein. Ein neuerlicher Perspektivenwechsel, die nächste Horizonterweiterung.

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  • Round Table | Science and Law
  • Smart Living Lab

 

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