Recht – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Wed, 02 Apr 2025 11:04:15 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Zwischen Regulierung und Meinungsfreiheit: Wie Plattformen die Demokratie herausfordern /alma-georges/articles/2025/zwischen-regulierung-und-meinungsfreiheit-wie-plattformen-die-demokratie-herausfordern /alma-georges/articles/2025/zwischen-regulierung-und-meinungsfreiheit-wie-plattformen-die-demokratie-herausfordern#respond Thu, 06 Mar 2025 15:40:54 +0000 /alma-georges?p=22024 Online-Plattformen wie X, TikTok oder YouTube beeinflussen zunehmend die öffentliche Debatte – und damit auch die Demokratie. Doch wie weit darf Regulierung gehen, ohne die Meinungsfreiheit zu gefährden? Unsere Expert_innen Anna Jobin und Manuel Puppis sprechen über die Herausforderungen der Plattform-Ökonomie, algorithmische Macht und mögliche Alternativen.

Vermehrt wird darüber diskutiert, welche Gefahren Online-Plattformen wie X, TikTok oder YouTube für die Demokratie mit sich bringen. Ob und wie sie reguliert werden sollen ist aber hoch umstritten. Warum löst das Thema so heftige Reaktionen aus (siehe Shitstorm bei Nationalrätin Meret Schneider)?
Puppis: Wie viel Regulierung wünschbar und nötig ist, ist in der Politik immer umstritten. Wenn es um das Thema Kommunikation geht, gilt das umso mehr. Denn die Regulierung von Medien und Plattformen berührt unmittelbar Fragen von Meinungsäusserungs- und Medienfreiheit, weshalb besondere Vorsicht geboten ist. Kommt hinzu: Das Internet ist ein globales Netzwerk, womit auch unterschiedliche Rechtsauffassungen aufeinanderprallen. In Europa ist die Rechtslage klar: Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit sind erlaubt, wenn dies der Wahrung berechtigter öffentlicher Interessen dient. Auf dieser Grundlage können Nationalstaaten Inhalte wie Hassrede, grausame Gesamtdarstellungen oder extreme Pornographie für illegal erklären. Und daran müssen sich auch Plattformen halten, doch sind sie der Aufgabe meistens nicht gewachsen. Noch schwieriger ist es bei legalen, aber potenziell schädlichen Inhalten, wie beispielsweise Desinformation. Dort setzen Plattformen in Eigenregie Regeln auf und löschen Inhalte oder sperren Nutzerkonten. Beschwerden gegen Entscheidungen sind kaum möglich. Da stellt sich schon die Frage, ob US-amerikanische oder chinesische Plattformen darüber entscheiden sollen, was in der Schweiz gesagt werden darf und was nicht.

Jetzt geht es aber nicht nur um Inhalte. Algorithmen entscheiden zunehmend darüber, welche Informationen Nutzer_innen sehen. Gibt es Strategien, wie Nutzer_innen sich dagegen wehren können?
Puppis: In der Tat ist es ein Problem, dass Plattformen mit ihren Algorithmen darüber entscheiden, welche Inhalte von welchen Anbieter_innen welchen Nutzer_innen angezeigt werden und welche nicht. Damit nehmen Plattformen ähnlich wie Medienkonzernen Einfluss auf die Meinungsbildung.

Jobin: Im Zeitalter des digitalen Informationsüberflusses geht es nicht ohne Sortierung und Priorisierung von Inhalten. Nutzende beeinflussen dies zum Teil aktiv, indem sie der Plattform signalisieren, welche Inhalte sie bevorzugen, aber auch passiv durch ihr Klick- und Konsumverhalten. Die sogenannte Digitale Selbstverteidigung gibt Einzelnen zwar hilfreiche Tipps, wie man weniger getrackt wird. Letztlich aber optimieren diese algorithmischen Systeme aber für Plattformprofite, oder sonstige Ziele ihrer Besitzer_innen, und nicht nach demokratischen oder publizistischen Prinzipien.

Puppis: Deshalb wäre es auch nötig, dass wir über nicht-kommerzielle Alternativen zu den bestehenden Plattformen nachdenken, die nach den Regeln der Schweizer Demokratie funktionieren. Denn kommerzielle Plattformen haben keinerlei Anreize, andere als ihre eigenen unternehmerischen Interessen zu verfolgen. Hinzu kommt, dass diese Konzerne über grosse Marktmacht verfügen, die sie auch missbrauchen können.

Oft wird betont, dass auch Medien- und Digitalkompetenz der Bevölkerung eine Rolle spielt. Welche konkreten Massnahmen wären hier sinnvoll? Reicht es aus, wenn Nutzer_innen «medienkompetenter» werden, oder braucht es strukturelle Veränderungen?
Jobin: Medien- und Digitalkompetenzen sind essenziell. Sie reichen jedoch allein nicht aus, die grundlegenden Probleme zu lösen, da die Gestaltungsmacht fast unilateral bei ein paar wenigen Plattformen liegt. Neben der Förderung individueller Fähigkeiten zum kritischen und reflektierten Umgang mit digitalen Medien sind deshalb auch strukturelle Veränderungen notwendig. Dazu braucht es Regulierung, beispielsweise als Gegengewicht zu monopolistischen Dynamiken, zum Schutz vor exzessiver Datensammlung sowie zur Schaffung unabhängiger Infrastrukturen. Nur so können Bürgerinnen und Bürger in einer digitalen Welt auch wirklich mündig handeln.

Ist es nicht illusorisch, wenn die Schweiz Plattformen zu regulieren versucht? Werden die Schweiz und Europa dadurch nicht eher vom Rest der Welt abgehängt?
Jobin:
Die Schweiz steht nicht allein in ihrem Bestreben, Plattformen zu regulieren. Die Europäische Union hat mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) bereits umfassende Regelwerke geschaffen. Nationale Regulierung ist daher nicht illusorisch, sondern ein notwendiger Schritt, um den monopolistischen Einfluss grosser Plattformen zu begrenzen und Innovation zu fördern. Internationale Koordination bleibt dabei wünschenswert, aber auch auf nationaler Ebene gibt es Handlungsspielraum.

Ist Regulieren nicht hochpolitisch? Können wir den Regulierungsprozess demokratisieren, ausgewogen gestalten? Wie soll das gehen?
Puppis:
Aus der Forschung wissen wir: Nicht zu regulieren ist genauso politisch wie zu regulieren. Die entscheidende Frage lautet: Wer profitiert vom Verzicht auf Regulierung oder von der Einführung bestimmter Regulierung? Geht es um die Wahrung des öffentlichen Interesses oder um die Bedienung der Spezialinteressen weniger Akteure? Und natürlich verfügen nicht alle Akteure über gleich viel Einfluss in der Politik. Plattformen sind deutlich mächtiger als NGOs. Den Medien kommt deshalb eine wichtige Rolle zu, diese Prozesse zu beleuchten.

Viele Forschende und Hochschulen nutzen soziale Medien, um ihre Forschungsergebnisse zu kommunizieren. Angesichts der aktuellen Entwicklungen bei Meta und X: Welche Herausforderungen sehen Sie für die Wissenschaftskommunikation auf diesen Plattformen? Sollten Hochschulen alternative Kanäle fördern? Haben Sie Favoriten (Mastodon, Bluesky etc.)?
Jobin: Bisherige Tendenzen verstärken sich zunehmend. Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen allgemein zeigen schon seit einigen Jahren Leadership, indem sie in wissenschaftliche Kommunikationsinfrastruktur investieren wie Repositories, Scholar-led Publishing, Open Source Plattformen. Die Association of Internet Research AoIR beispielsweise hat für ihre Mitglieder eine Mastodon-Instanz geschaffen, was ich sehr schätze.

Puppis: Das Umfeld auf X erlebe ich mittlerweile als toxisch. Gehaltvolle Diskussionen kommen keine mehr zustande; Beiträge haben nur noch eine geringe Visibilität. Unterdessen bin ich vor allem auf Bluesky aktiv, weil dort eine kritische Masse an interessanten Menschen aus Wissenschaft, Politik und Medien erreicht wurde. Mit Blick auf die Probleme von Plattformen verfolgt aber Mastodon mit seinem föderierten Netzwerk den demokratiepolitisch richtigen Ansatz.

Unsere Expert_innen

Anna Jobin ist Oberassistentin am interfakultären Institut Human-IST. Sie forscht zu den gesellschaftlichen und ethischen Aspekten von Künstlicher Intelligenz. Manuel Puppis ist Professor für Medienstrukturen und Governance am Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung DCM. In seiner Forschung interessiert er sich für Medienpolitik und die Digitalisierung von Öffentlichkeit in vergleichender Perspektive. Anna Jobin ist Präsidentin, Manuel Puppis Vizepräsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK), die den Bundesrat berät.

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Dies Academicus 2023 – «Je voulais devenir enseignant pour faire mieux» /alma-georges/articles/2023/dies-academicus-2023-je-voulais-devenir-enseignant-pour-faire-mieux /alma-georges/articles/2023/dies-academicus-2023-je-voulais-devenir-enseignant-pour-faire-mieux#respond Thu, 23 Nov 2023 14:09:10 +0000 /alma-georges?p=19326 La Faculté de droit a décerné au Professeur Pascal Ancel le titre honorifique de docteur honoris causa. Dans une entrevue exclusive, il partage des perspectives sur sa méthode exceptionnelle qui permet une comparaison plus précise et une meilleure compréhension de divers systèmes juridiques. Il témoigne également de son engagement en faveur des étudiant·e·s.

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Regards croisés sur l’intelligence artificielle /alma-georges/articles/2023/regards-croises-sur-lintelligence-artificielle /alma-georges/articles/2023/regards-croises-sur-lintelligence-artificielle#respond Mon, 19 Jun 2023 11:30:02 +0000 /alma-georges?p=18352 L’intelligence artificielle va-t-elle rendre l’humain superflu? Est-elle une opportunité ou une malédiction? Dans le cadre du workshop interdisciplinaire Quali+, Franck Missonnier-Piera (sciences économiques), Michel Heinzmann (droit), Ivo Wallimann-Helmer (humanités environnementales) et Gianfranco Soldati (philosophie) ont soumis cette révolution technologique, et peut-être sociétale, au crible de leurs algorithmes respectifs.
Parce que trop disruptive, l’intelligence artificielle (IA) requiert-elle l’adoption d’un moratoire sur son développement? Si rien n’est fait, risque-t-on de se retrouver toutes et tous au chômage, de surcroît dans un monde submergé de fausses informations? Les promesses et les menaces de l’intelligence artificielles sont telles qu’il est difficile de préjuger de l’avenir qu’elle nous réserve. Afin d’y voir plus clair, le traditionnel workshop de la filière Quali+, cuvée 2023, propose de scruter l’IA selon quatre perspectives et d’en dresser un premier bilan. Morceaux choisis par une intelligence limitée, mais 100% naturelle.

Frank Missonnier-Piera

Point de vue de l’économiste
Pour Frank Missonnier-Piera, il est incontestable que l’IA affecte déjà la vie des entreprises: «Elle permet d’agréger très rapidement une masse considérable de données comptables pour savoir, par exemple, quels biens ou quels services il faudrait fournir en priorité aux client·e·s. Du côté des fournisseurs·euses, l’IA peut aider à mieux gérer le stockage des marchandises de sorte à éviter des ruptures de flux.» Selon le titulaire de la Chaire Comptabilité et Analyse financière, l’IA va en particulier impacter les métiers comptables, en facilitant notamment la préparation des états financiers de l’entreprise. «Un logiciel peut non seulement aider à repérer des erreurs ou des anomalies, par exemple une facture erronée, mais aussi aider à se conformer à des normes complexes, environnementales ou juridiques, qui varient d’un pays à l’autre.»
Au niveau micro-économiques, l’IA permet donc de dégager du temps et des ressources pour des activités à forte valeur ajoutée. En revanche, elle représente un risque majeur au niveau financier car, en anticipant les tendances de marché, les algorithmes peuvent générer des effets boule de neige catastrophiques. «Si tous les agent·e·s économiques vendent en même temps, alertés par l’IA d’une tendance baissière imminente, les cours peuvent chuter de manière précipitée et provoquer un crash éclair. Il faut donc maîtriser ces outils!»

Michel Heinzmann

Michel Heinzmann

Point de vue du juriste
Rebondissant autant sur les propos de Frank Missonnier-Piera que sur l’actualité, Michel Heinzmann, titulaire de la Chaire de procédure civile, entame sa présentation en se demandant si, dans le fond, le crash du Crédit suisse ne serait pas lui-même dû à un algorithme. «L’impact juridique a été immédiat, poursuit-il, puisque le week-end même le Conseil fédéral produisait une ordonnance forçant UBS à racheter le Crédit suisse». Pour Michel Heinzmann, les spécialistes du droit disposent déjà d’une certaine forme d’IA, bien qu’encore rudimentaire. «Des moteurs de recherche nous permettent, par exemple, d’avoir accès aux arrêts du Tribunal fédéral, la plus haute instance juridique du pays. Cela facilite l’accès aux données avec, revers de la médaille, le risque de se voir noyé·e sous un flot d’informations.» A cela s’ajoute, selon lui, le risque d’atteintes à la personnalité. «En croisant les données, l’IA pourrait permettre de lever le secret et désanonymiser les données. Cela requiert une règlementation !» D’aucun·e·s craignent également un ralentissement de l’évolution du droit et sa déconnexion de l’évolution sociétale, puisque l’IA se nourrit d’un corpus de données existantes. Les mêmes causes produisant les mêmes effets, il est à craindre que l’IA n’affecte la justice prédictive. «On peut imaginer que les personnes appartenant à des minorités ethniques, les plus représentées dans le monde carcéral, soient victimes de biais reproduits par l’AI». Et Michel Heinzmann de conclure, avec des accents missonniens, que «l’IA va nous aider à libérer des ressources en automatisant les tâches simples, mais elle ne remplacera jamais l’humain dans l’exercice de la justice».

Ivo Wallimann-Helmer

Point de vue de l’éthicien
Avec plusieurs collègues, Ivo Wallimann-Helmer, professeur au Département des géosciences, a développé un modèle servant à évaluer la durabilité des algorithmes. «Nous en sommes encore aux balbutiements, admet-il, mais notre but serait, par exemple, de pouvoir évaluer la durabilité économique et sociale des algorithmes utilisés par une banque.» Selon lui, il convient en effet de définir un cadre permettant une numérisation de la société qui soit à la fois durable et éthique. Pour y parvenir, il faudrait s’accorder sur des normes légales, éthiques et environnementales afin de savoir ce qui «est ok ou ce qui pose problème». En somme, il convient d’adopter «une approche intégrée de l’éthique numérique». Parfois considérée comme le pétrole du XXIe siècle, la digitalisation en a aussi les inconvénients: «Les serveurs consomment une énergie folle!»

 

Gianfranco Soldati

Point de vue du philosophe
La question fondamentale que Gianfranco Soldati se pose est la suivante: «Est-ce que l’IA constitue un danger pour nous, les humain·e·s? Va-t-elle prendre des décisions à notre place, notamment sur des aspects fondamentaux de notre vie?» Ces questions, selon le philosophe, laissent entendre qu’il y aurait une substitution progressive de l’humain par l’IA. Gianfranco Soldati, dans un exercice d’origine cartésienne, essaie de faire réfléchir l’auditoire à l’origine de cette crainte. Pour lancer la discussion, il avance l’hypothèse selon laquelle cette peur provient d’une conception fausse que nous nous sommes faites de nous-mêmes en tant qu’humain·e. «Sous l’influence des sciences humaines, qui nous réduisent à une sorte de mécanisme, nous avons développé une image de nous-mêmes qui ressemble beaucoup à l’IA…. D’où notre crainte que l’IA puisse nous dépasser.»

 


L’Unifr, au cÅ“ur de l’IA
Si l’IA a au moins un mérite, c’est celui d’échauffer les circonvolutions de nos petits cerveaux, car cette technologie soulève d’innombrables questions et éveille des craintes légitimes. Il n’empêche, l’Université de Fribourg, avec ses cinq facultés, est l’endroit idéal pour appréhender la problématique de manière aussi holistique que possible. Il ne reste plus qu’à espérer une saine émulation entre chercheuses et chercheurs de tous horizons. Et même s’il n’en a pas été question durant le workshop, il est bon de rappeler que l’Université de Fribourg est l’une des chevilles-ouvrières du (SCAI), le centre de compétence national pour le développement et l’implémentation de l’intelligence augmentée.

 

 

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Doris Angst, im Einsatz für die Menschenrechte /alma-georges/articles/2022/doris-angst-im-einsatz-fur-die-menschenrechte /alma-georges/articles/2022/doris-angst-im-einsatz-fur-die-menschenrechte#respond Tue, 29 Nov 2022 10:38:26 +0000 /alma-georges?p=17172 Für ihren unermüdlichen Einsatz zum Schutz der Menschenrechte und im Kampf gegen Diskriminierung erhielt Doris Angst den Ehrendoktortitel der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Im Gespräch mit Alma&Georges spricht sie über ihren Antrieb – und über ihre Verbindung zur Unifr.

Sie sind eine der ausgezeichneten Personen unseres Dies Academicus 2022. Wie haben Sie sich an diesem Festtag gefühlt?
Der Tag gestaltete sich äusserst festlich, inklusive der Talare von Rektorin und Dekanen. Die grosse lateinische Urkunde in der Rolle, die uns Geehrten übergeben wurde, war traditionell – das darf es auch für einmal sein. Die Fakultät und besonders Dekan Hubertus Stöckli vermittelten mir eine echte Zugehörigkeit. Ich fühlte mich sehr geehrt – auch in der Runde der anderen ausgezeichneten Personen. Thematisch am nächsten waren mir der Schriftsteller Lukas Bärfuss und Prof. Marie-Jo Thiel mit ihrer Forschung zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Gerne hätte ich mich an dem Tag, an welchem alle fünf Geehrten anwesend waren, für einen kurzen Moment persönlich mit den anderen unterhalten, wozu es leider keine Gelegenheit gab. Beeindruckt hat mich die gelebte Zweisprachigkeit, der sich die Universität verschrieben hat. Das gemeinsam gesungene «Gaudeamus igitur» bildete einen bewegenden Abschluss der Feier in der Aula Magna.


Was bedeutet es in einer Karriere wie der Ihren, einen Ehrendoktortitel zu erhalten?
Schon im fortgeschrittenen Alter stehend darf ich das Ehrendoktorat als Würdigung meines Einsatzes für das Zusammenleben zwischen Mehrheit und Minderheiten und gegen Diskriminierung ansehen. Ich war in verschiedenen Bereichen quasi als Pionierin unterwegs. Oft folgte ein gewisser gesellschaftlicher Wandel in der angestrebten Richtung erst 15-20 Jahre später, sei es in der Begleitung von Asylsuchenden, in der Erkenntnis, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, usw. Als Vorläuferin wird man nicht mit Lorbeeren überschüttet. Auch folgte mein Lebensweg nicht den üblichen institutionell vorgegebenen Wegen, sondern nahm einige Umwege, die aber schliesslich auch meiner Forschungstätigkeit zugutekamen.

Ich war erfreut festzustellen, dass ich die vier Frauen, welche von der Fakultät in den letzten Jahren mit dem Dr. h.c. geehrt wurden, alle persönlich kennenlernen durfte: Dr. Margrith Bigler-Eggenberger (erste Bundesrichterin), Navanethem Pillay (ehemalige UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte), Ursula Müller-Biondi (Vorreiterin für eine Wiedergutmachung an die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen), Prof. Helen Keller (u.a. Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). Uns verbinden die Menschen- und Frauenrechte!

Was hat Sie im Laufe Ihrer Karriere mit der Universität Freiburg verbunden?
Es ergaben sich über die Jahre Schnittstellen in den Forschungsinteressen: Prof. Damir Skenderovics’ Arbeiten zu Rechtsextremismus waren und sind für meine Lehrtätigkeit an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit zu ideologisch extremistischer Gewalt von Bedeutung. Prof. Marcel Alexander Niggli und Prof. Samantha Besson standen mit ihrer Forschung mit der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) in Verbindung, Herr Niggli durch seinen Kommentar zum Strafrechtsartikel 261bis StGB Rassendiskriminierung (heutiger Titel: Diskriminierung und Aufruf zum Hass), Frau Besson als zeitweiliges Mitglied der EKR, deren erste Geschäftsführerin ich war. Prof. Bernhard Waldmann seinerseits verfasste Gutachten zu institutioneller rassistischer Diskriminierung. Schliesslich lernte ich als Vizepräsidentin des Beirats des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) Prof. Eva Maria Belser kennen, die Mitglied des Direktoriums ist. In Programmen des Zentrums Islam und Gesellschaft leitete ich mehrmals Workshops; auch sprach ich am Institut de plurilinguisme über den Schutz nationaler Minderheiten.

Kann man sich nach einer solchen Auszeichnung ausruhen oder haben Sie immer neue Pläne?
Nun, mit 70 kann man sich die Arbeit etwas aussuchen. Ich bin Mitglied einer vom EDA geleiteten Arbeitsgruppe zur Ausgestaltung der im Entstehen begriffenen Schweizer Nationalen Menschenrechtsorganisation nach Vorgaben der UNO, den sog. «Pariser Prinzipien». Den entsprechenden Gesetzestext dazu hat das Parlament im Oktober 2021 verabschiedet. An der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit unterrichte ich zu den Themen Rassismus und extremistische Gewalt. Ich kann mich jeweils nicht über mangelndes Interesse der Studierenden beklagen, denn beide Phänomene sind in der Gesellschaft präsent und Sozialarbeitende können damit konfrontiert werden. Weiter lockt mich ein Forschungsthema, das ich aus dem Handkommentar zum Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung (publiziert 2020) ableite.

Was würden Sie jungen Studierenden raten, die eine ähnliche Karriere anstreben?
Wie ich zu Anfang ausführte, verlief meiner eigener Weg nicht sehr gradlinig auf einer Karriereleiter. Ich bin der Meinung, dass der Ausbau des Schutzes vor Diskriminierung in der Schweiz in Zukunft ein spannendes und lohnendes Thema für Jurist_innen und Soziolog_innen darstellt. Unser Land weist in diesem Bereich beachtlichen Nachholbedarf aus. Um die nötigen Rechtsmittel auszubauen, sind Forschung und Lehre nötig, welche bestehende Diskriminierungen, deren Vorhandensein von der Politik weitgehend beiseitegeschoben wird, greifbar machen.

Die Menschenrechte stehen heute durch autoritäre Regimes und populistische Tendenzen vermehrt unter Druck. «Wir brauchen die Menschenrechte – Die Menschenrechte brauchen uns» lautet mein Motto, d.h. wir müssen die Menschenrechte hochhalten und immer wieder vor Angriffen verteidigen, damit wir gegebenenfalls ihren Schutz in Anspruch nehmen können.

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Wer ist der Parasit? /alma-georges/articles/2022/wer-ist-der-parasit /alma-georges/articles/2022/wer-ist-der-parasit#respond Tue, 11 Oct 2022 08:32:49 +0000 /alma-georges?p=16632 Wie wird das Recht im Film dargestellt? Die Auswahl der Rechtswissenschaftlichen Fakultät präsentiert Ihnen jedes Jahr sechs Vorführungen mit je einem bestimmten Thema, die zum Entdecken einladen. Mit Prof. Eva Maria Belser haben wir über das diesjährige Sujet Krisen gesprochen. Die Film-Vorführungen stehen übrigens allen Interessierten unserer Universitätsgemeinschaft offen!Ìý

Eine Filmreihe zum Thema Krise … Wenn eine Krise nach der anderen kommt, ist das nicht sehr amüsant!
Wir haben schön etwas gezögert, ob wir wirklich das Thema Krise wählen sollen, weil wir doch ein wenig krisengesättigt sind. Wir haben dann aber gefunden, dass wir den Dialog suchen wollen zwischen Filmkunst und Recht. Bei der Filmauswahl haben wir aber darauf geachtet, dass wir nicht eine ganze Zahl erdrückender Filme haben. Wir haben auch humorvolle Filme, Satire-Filme … und wollen Krise durchaus auch als Chance diskutieren; als chaotische Möglichkeit, etwas Neues zu entwickeln.

Wie haben Sie Ihre Auswahl getroffen?
Michel Heinzmann und ich können nicht gleich tausend Filme selektionieren, aber wir haben doch einen langen Prozess der Filmselektion durchlaufen und haben uns auch von Lucie Bader beraten lassen. Wir sind ein ganzes Team; mit Assistentinnen und Assistenten, die recherchieren. Und bevor wir das Programm gemacht haben, haben wir als Team tatsächlich auch Filmabende gemacht. Wir haben viele Filme visioniert, verworfen, weitergesucht … Es war doch ein monatelanger Prozess, bis das Programm stand.

ÌýKann das Recht Krisen verhindern? Inwiefern zeigt sich das in den Filmen?
Genau diese Frage möchten wir diskutieren. Uns interessieren nicht die Krisen an sich, sondern welche die Rolle des Rechts darin ist. Wann muss man Krisen voraussehen? Wie kann man aus Rechtsordnung Krisen verhindern? Vielleicht Folgen von Krisen abwenden oder mildern? Sind wir überhaupt richtig unterwegs in Bezug auf die Krisen, die wir hier vor der Tür haben? Covid haben wir jetzt extra nicht thematisiert, auch nicht Krisen wie Krieg oder Klima, denn wenn wir an Krisen denken, denken wir auch an Identitätskrisen, Beziehungskrisen, Entwurzelungskrisen … und möchten uns bei jedem Thema diese Fragen stellen: Was betrifft uns? Was ist die Rolle des Rechts? Wo kann es unterstützen, fördern, schützen? Und machen wir das eigentlich richtig?

Aktueller geht es nicht: Sie zeigen einen Film, der eine Ukrainerin porträtiert, die in der Schweiz Zuflucht findet. Was hat das Recht mit dieser Geschichte zu tun?
Das war unser Eröffnungsfilm. Wir haben uns gesagt: Wenn wir Krise thematisieren, dann müssen wir die Ukraine zum Thema machen. Wir haben es gemacht anhand dieses preisgekrönten Schweizer Films Olga, der nicht die jetzige Kriegssituation behandelt, sondern die Euromaidan-Revolution. Wir hatten unsere Migrationsexpertin Sarah Theuerkauf dabei, die uns z.B. den Schutzstatus erläutert hat, den Personen, die aus der Ukraine haben flüchten müssen und in die Schweiz gekommen sind, jetzt geniessen. Dieser wurde zum ersten Mal in der Geschichte aktiviert. Wir haben versucht zu verstehen, was das bedeutet und in Kontext gesetzt zu den Geschehnissen in der Ukraine bis zum heutigen Tag. Das Recht ist hier in vielfältiger Weise involviert: Fragen zum Schutzstatus, der Sanktionen gegenüber Russland, Neutralität, Reisebeschränkungen … Das Recht ist mittendrin.

In Woman at War geht es auch um zivilen Ungehorsam. Was sagt das Recht dazu? Dura lex sed lex oder verdient die Dringlichkeit der Klimakrise im Gegenteil eine gewisse Nachsicht, wie im Prozess gegen die jungen Aktivist_innen bei der Credit Suisse?
Ich will das jetzt nicht vorwegnehmen, weil das in zwei Wochen grosses Diskussionsthema sein wird. Ich glaube nicht, dass unsere Rechtsordnung im Moment eine Antwort bereithält. Es gibt Städte und Kantone, Staaten und Provinzen, die den Klimanotstand erklärt haben. Aber welche Bedeutung das rechtlich genau hat, ist nicht klar. Wahrscheinlich muss man auch differenzieren, welche Bedeutung es im öffentlichen Recht hat, für die Dringlichkeitsgesetzgebung und für das Strafrecht. Aber wir freuen uns sehr auf die Diskussion. Wir werden unseren Alumnus Raphael Mahaim hier haben. Er ist einer der Anwälte, der damals in Lausanne die Jugendlichen verteidigt hat, die in der Credit Suisse Tennis gespielt haben. Er wird nach dem Film genau über diese Frage referieren.

Der Film Parasite scheint zu zeigen, dass Armut manche Menschen dazu zwingt, das Gesetz zu brechen: Man kann z.B. dazu gezwungen sein, zu stehlen, um sich zu ernähren.
Das ist ein ausgezeichneter Film aus Südkorea, der tatsächlich eine Krise thematisiert, die wir wahrscheinlich vernachlässigen, weil wir den spektakulären Krisen hinterherrennen. Es geht um die Krise der wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten; weltweit ohnehin, aber auch innerhalb jedes Staates. Der Film porträtiert eine sehr reiche Familie – in anderen Ländern würde man von einer Oligarchen-Familie sprechen – und eine Familie am unteren Ende der Skala. Tatsächlich ist diese Familie, weil das soziale System zu wenig stark ist, darauf angewiesen, sich ±è²¹°ù²¹²õ¾±³Ùä°ù an diese reiche Familie anzudocken. Das Schöne am Film ist aber, dass man am Ende nicht weiss, wer denn nun genau der Parasit ist. Ist nicht jene Familie der Parasit, die von Anfang an diese Ungleichheit hat erzeugen lassen? Es ist ein wunderbarer Film, weil diese ganze Hierarchie unserer Gesellschaft auch filmisch wunderbar in Szene gesetzt wird: Es gibt immer Treppen nach oben, nach unten, Obergeschoss, Keller … Und es ist ein Film, der dauernd dreht und überrascht: Wer ist jetzt Opfer? Wer ist Täter? Als Zuschauer_innen werden wir sehr herausgefordert.

Welcher Film hat Ihnen am besten gefallen und warum?
Wir haben viele Filme erst ausgewählt und nach dem Anschauen und langen Diskussionen wieder verworfen. Ich muss sagen, dass ich mich in jeden dieser sechs Filme, die wir zeigen, verliebt habe. Ich bin von jedem einzelnen begeistert. Wenn ich aber spontan einen Lieblingsfilm wählen müsste, würde ich Parasite nehmen. Gerade, weil mich diese soziale Frage und die filmische Darstellung einfach völlig begeistern.

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«Was bringt es, zu wissen, ob ein Mensch als Mann oder als Frau geboren wurde?» /alma-georges/articles/2021/was-bringt-es-zu-wissen-ob-ein-mensch-als-mann-oder-als-frau-geboren-wurde /alma-georges/articles/2021/was-bringt-es-zu-wissen-ob-ein-mensch-als-mann-oder-als-frau-geboren-wurde#respond Mon, 12 Apr 2021 09:04:25 +0000 /alma-georges?p=13534 Recht ist nicht immer gerecht. Nula Frei von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Unifr und Nils Kapferer, Doktorand am Europainstitut der Unibas, erklären im Interview, warum sie in ihrem FRI-Lesekreis einen queerfeministischen Ansatz versuchen.Ìý

Wer steckt hinter dem FRI-Lesekreis und für wen wurde er gegründet?
Nils Kapferer: Das FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law – geht auf die Initiative von feministischen Juristinnen in den 1990er Jahren zurück und wird aktuell von einer vielfältig zusammengsetzten Gruppe von Jurist_innen getragen.

Im Jahr 2019 haben zwei Mitglieder des FRI, Sofia Balzaretti von der Unifr und ich von der Uni Basel beschlossen, Möglichkeiten des Austausches rund um Texte – juristische und/oder soziologische anzubieten, die eine Reflexion über das Recht aus einer Gender-Perspektive ermöglichen. Da Sofia Balzaretti für ihre Dissertation ins Ausland ging, hat sich Nula Frei bereit erklärt, zusammen mit mir diese Treffen weiterzuführen.

Der FRI-Lesekreis ist interdisziplinär und offen für alle, die aus einer feministischen und queeren Perspektive darüber nachdenken wollen, was das Recht in unserer Gesellschaft ist und tut. Er ist in erster Linie für Jus-Studierende gedacht, aber auch Studierende anderer Fachrichtungen sind herzlich willkommen. Der FRI-Lesekreis ist auch offen für Menschen, die sich wissenschaftlich mit dem Thema befassen oder einfach nur diese Momente des Austauschs nutzen wollen.

Nils Kapferer, Unibas

Wonach fragt eine feministische und queere Rechtskritik?
Nils Kapferer: Das Recht, nicht nur in seiner Anwendung, sondern auch im Studium, ist – wie viele Bereiche der Gesellschaft – von Menschen produziert, gedacht und analysiert worden, die sich meist als männlich, heterosexuell und cisgender identifizieren, aus wohlhabendem Hause und, wie so häufig in der Schweiz, weiss sind. Diese Realität hat über Jahrhunderte geprägt, was das Recht ist und wie es gedacht wird. Es ist notwendig, andere Ansätze – in unserem Fall feministische und queere – zu entwickeln, um darüber nachzudenken, was das Recht ist. Auch wenn sich das langsam ändert, ist ein feministischer Ansatz an den Juristischen Fakultäten der Schweiz immer noch schlecht vertreten. Von einem queeren Ansatz ganz zu schweigen! Den FRI-Lesekreis gibt es mit dem Ziel, einen Diskussionsraum anzubieten, der es uns ermöglicht, diesen feministischen und queeren Ansatz bekannt zu machen und weiterzuentwickeln. Darüber hinaus möchte der FRI-Lesekreis auch eine interdisziplinäre Perspektive entwickeln, insbesondere durch die Lektüre von Texten aus der Rechtssoziologie.

Was sind die konkreten Forderungen oder Ziele einer solchen Rechtskritik?
Nils Kapferer: Alle Rechtsgebiete sind für einen feministischen und queeren Ansatz geeignet. Wenn man sich mit der Gesetzgebung auseinandersetzt, ist es immer notwendig, den Kontext zu berücksichtigen, in dem sie geschrieben wurde. Wer hat das Gesetz erlassen? Für wen wurde es erlassen? Wer wird davon profitieren? Manchmal mag ein Gesetz neutral erscheinen, weil es sich an die gesamte Bevölkerung richtet, aber seine konkreten Auswirkungen betreffen nicht alle Menschen in gleicher Weise.

Zum Beispiel kann ein Gesetz, das darauf abzielt, die Ladenöffnungszeiten zu verlängern, neutral erscheinen. Aber in Wirklichkeit, wenn wir uns den Text und seine Folgen etwas genauer ansehen, wird klar, dass es Frauen sind, die von dieser Erweiterung am meisten betroffen sind. Tatsächlich sind 66% (2018, BFS) der im Detailhandel tätigen Personen Frauen. Ausserdem übernehmen Frauen in Haushalten mit Kindern immer noch 69 % der Hausarbeit (2018, BFS). Zum Schluss sind es in 84 % der Fälle Frauen, die eine Familie mit nur einem Elternteil führen (2017, BFS). Eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten trifft daher vor allem Frauen, die in Zeiten, in denen keine Kinderbetreuungseinrichtungen geöffnet sind, Lösungen finden müssen. Um auf diese Weise über das Recht zu denken, ist es notwendig, die Gender-Brille aufzusetzen, aber auch in der Lage zu sein, «ausserhalb des Rechts» zu denken, also mit Hilfe anderer Disziplinen wie Soziologie, Geschichte, Psychologie, etc.

Nula Frei, Unifr

In welchen Bereichen des Rechts sind die grössten Missstände festzustellen?
Nula Frei: Ich sehe die feministische und queere Rechtskritik als ein Analysetool, ein bestimmter Blick auf die Welt, der Machtstrukturen identifiziert und uns somit ein besseres Verständnis des Rechts erlaubt. Insofern lassen sich sämtliche Bereiche des Rechts queer-feministisch analysieren, und hier liegen viele Bereiche noch brach, etwa im besonderen Verwaltungsrecht. Die brennendsten Fragen stellen sich derzeit sicherlich in Bezug auf den Umgang des Rechts mit geschlechtsspezifischer oder sexualisierter Gewalt, dann die fehlende Anerkennung von Care-Arbeit und der ganze rechtliche Rattenschwanz, der daraus folgt (z.B. im Sozialversicherungs- oder im Steuerrecht) sowie die immer noch existierenden, aber mit den derzeitigen rechtlichen Mitteln kaum bekämpfbare Diskriminierung am Arbeitsplatz. Schliesslich auch die rechtlich immer noch stark verankerte Zweigeschlechtlichkeit bzw. Binarität.

In Deutschland gibt es seit Ende 2018 die sogenannte «Dritte Option». Beim Eintrag ins Personenstandsregister können Menschen zwischen «männlich», «weiblich und «divers» wählen, oder gar keine Angabe machen. Wie finden Sie das und wo stehen wir aktuell in der Schweiz?
Nils Kapferer: In der Schweiz hat der Bundesrat eine Änderung des Zivilgesetzbuches vorgeschlagen, der sich mit dem Personenstand befasst, um die administrative Transition von Personen zu erleichtern, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde – das ist aber noch nicht in Kraft. Der Bundesrat hat in der Vernehmlassung betont, dass diese Änderung die Geschlechterbinarität nicht in Frage stellt und dass er diese Frage in seiner Antwort auf zwei 2017 eingereichte Postulate, die sich speziell mit dieser Frage befassen, angehen will.

Die Notwendigkeit der Angabe einer Geschlechtsidentität im Personenstand wirft viele Fragen auf: Was bringt es, zu wissen, ob ein Mensch als Mann oder als Frau geboren wurde? Ist es nicht so, dass die Festlegung des Geschlechts eines Menschen bei der Geburt bereits der Beginn einer spezifischen Sozialisation und von zahlreichen Diskriminierungen ist?

Darüber hinaus ergeben sich aus diesen Überlegungen auch pragmatische Bedenken, insbesondere in Bezug auf die Erstellung von Statistiken. In der Tat befürchten einige, dass es ohne Statistiken nicht mehr möglich sein wird, die Ungleichheiten aufzuzeigen, unter denen z. B. Frauen leiden, und dass es daher nicht mehr möglich sein wird, öffentliche Politik in verschiedenen Bereichen wie der Gleichstellung der Geschlechter zu betreiben.

Auf der einen Seite haben wir das Recht auf Gleichheit, auf der anderen Forderungen nach Berücksichtigung und Anerkennung von Differenzen – Ein Paradoxon?
Nula Frei: Diese beiden vermeintlich widersprüchlichen Forderungen haben die Gerichte schon vielfach beschäftigt, etwa wenn es um die Zulässigkeit von «Frauenquoten» ging oder um das Recht muslimischer Frauen, eine Vollverschleierung (Niqab) zu tragen. Zur Auflösung dieser Widersprüche führen Gerichte in der Regel eine Güterabwägung zwischen den sich widersprechenden Interessen durch, wobei man sagen kann, dass sie in der Tendenz dem Recht auf Gleichheit einen höheren Stellenwert einräumen als der Anerkennung von Differenz.

Wie sinnvoll ist eine genderneutrale Sprache im Recht?
Nula Frei: Die Rechtssprache und die gendergerechte Sprache haben eines gemeinsam: Sie streben nach sprachlicher Präzision. Insofern gilt auch im Recht: Betrifft eine Regelung nur Männer? Dann (und nur dann) sollte auch das Maskulinum verwendet werden. Betrifft sie alle Personen unabhängig von ihrem Geschlecht? Dann sollte eine neutrale Formulierung gefunden werden. Offizielle Rechtstexte in der Schweiz arbeiten zumeist mit der Beidnennung, z.B. «Bürgerinnen und Bürger». Hier ist die Schweiz fortschrittlicher als viele andere Länder, die in Rechtstexten immer noch das generische Maskulinum verwenden; die Beidnennung wird uns aber vor Herausforderungen stellen, sollte die «Dritte Option» dereinst in der Schweiz eingeführt werden.

Wie können Studierende oder die Gesellschaft allgemein für solche Themen sensibilisiert werden?
Nula Frei: Generell wird derzeit in der Öffentlichkeit wieder mehr über Geschlechter-Themen gesprochen als noch vor fünf Jahren, allerdings sind die Diskussionen leider häufig sehr polarisiert. Schön wäre es, wenn auch im Jus-Studium die Geschlechterdimensionen des Rechts häufiger angesprochen würden, denn wie gesagt gibt es kein einziges Rechtsgebiet, das nicht auch eine Geschlechterkomponente hat, und einmal eine feministische und queere Perspektive einzunehmen eröffnet spannende analytische Einsichten.

Glossar

Gender: Damit gemeint ist die soziale Dimension des Geschlechts. Gender spiegelt Pflichten, Eigenschaften und Erwartungen einer Gesellschaft wider.
Queerfeminismus/-feminismen:
Feministische Ansätze, der sich auf feministische Theorie und Queer-Theorie bzw. den Queer ÌÇÐÄVolg beziehen.Ìý
cis/cisgender/cis Person: Person, bei der die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.Ìý
trans/transgender:
Oberbegriff für alle Menschen, deren Geschlechtsidentität (teilweise) nicht dem ihnen körperlich zugeordneten Geschlecht entspricht.

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  • von Genderlaw, Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law
  • mit den Veranstaltungen des FRI-Lesekreises
  • von Nula Frei
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