Médiévistique – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Wed, 28 Aug 2024 12:45:13 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Die mehrsprachigen Schätze des Mittelalters /alma-georges/articles/2024/die-mehrsprachigen-schatze-des-mittelalters /alma-georges/articles/2024/die-mehrsprachigen-schatze-des-mittelalters#respond Wed, 28 Aug 2024 12:45:13 +0000 /alma-georges?p=20751

Das Mediävistische Institut der Unifr lädt vom 2. bis 4. September 2024 zu einem spannenden Graduiertenkurs ein, der sich mit der Welt der mehrsprachigen Handschriften des Mittelalters beschäftigt. Promovierende verschiedener Fachrichtungen haben die Gelegenheit, interdisziplinär zu arbeiten, ihre Forschungsprojekte vorzustellen und von international renommierten Expert_innen zu lernen. Ein zweisprachiges Interview mit den Organisator_innen. 

Warum sind mehrsprachige Handschriften für das Verständnis der mittelalterlichen Kultur und Geschichte besonders wichtig?
Mehrsprachigkeit war im europäischen Mittelalter eine selbstverständliche Gegebenheit und mit der Spracherfahrung unmittelbar verbunden. Mehrsprachige Handschriften treten in allen Perioden des Mittelalters auf z. B. in Form von Glossen, Urkunden und Sammlungen, deren Texte später zusammengefasst wurden.

Die Existenz mehrsprachiger Handschriften spiegelt zugleich die sprachliche und kulturelle Vielfalt mittelalterlicher Gesellschaften wider. Adelige Höfe, Handels- und Universitätszentren oder Klöster waren oft polyglott und auch über Sprachregionen hinweg miteinander vernetzt.

Ces manuscrits multilingues reflètent bien la circulation des gens et des idées au Moyen Âge et montrent comment, en termes d’études philologiques, une approche rigidement «nationale» (quand ce n’est pas nationaliste) empêche de saisir les relations étroites existant entre différentes communautés linguistiques: les sociétés médiévales sont souvent multilingues, tout comme les locuteurs, les écrivains ou les lecteurs maîtrisent plusieurs langues.

Wie hat sich die Forschung zu mittelalterlichen Handschriften in den letzten Jahren verändert, und welche Rolle spielt der Graduiertenkurs in diesem Kontext?
Les différentes disciplines traitant du Moyen Âge s’intéressent depuis toujours aux manuscrits, sans lesquels elles seraient impossibles. Mais alors que l’étude des manuscrits, de l’écriture (paléographie) ou des livres (codicologie) était considérée comme «science auxiliaire», désormais les médiévistes de toutes les disciplines ont intégré l’idée que la matérialité des manuscrits, et leur médialité – les messages que la matérialité du manuscrit fait passer, au-delà du seul contenu du texte –, sont fondamentaux. Notre cours de formation doctorale, parce qu’il réunit des intervenant·e·s de disciplines différentes, mais dont les questions sur les manuscrits multilingues se rejoignent, reflète bien cela. Par ailleurs, l’irruption des humanités numériques en études médiévales, surtout depuis le début du XXIe siècle, permet des rapports complètement différents aux manuscrits: par exemple, avec la reconnaissance de l’écriture manuscrite (l’OCR pour manuscrits, si on veut), il est possible d’obtenir rapidement une transcription de corpus de textes énormes, réalisée par l’intelligence artificielle: cela change le rapport des chercheuses et chercheurs aux manuscrits, avec le risque de les en éloigner. Le programme du cours veut à la fois sensibiliser aux nouveaux outils numériques, tout en insistant sur l’importance, toujours fondamentale, d’une connaissance intime des manuscrits.

Was erhoffen Sie sich von der interdisziplinären Diskussion unter den Teilnehmenden?
Die Interdisziplinarität und zugleich Vielsprachigkeit des Kurses stellen eine hohe Herausforderung an alle Teilnehmenden dar. Die thematischen Einblicke in die von Fach zu Fach unterschiedlichen Arbeitsbereiche sowie die verschiedenen methodischen Zugänge sind jedoch als eine Bereicherung für die Doktorierenden anzusehen, wie diese selbst in den vorangegangenen Kursen immer wieder betont haben.

Die fächerübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht es, die für die mittelalterliche Gesellschaft und Wissenskultur, wie sie sich in den mittelalterlichen Handschriften offenbart, grundlegende Verfahren deutlich zu machen. Indem die Doktorierenden ihr Thema auch solchen Wissenschaftler_innen vorstellen, die anderen Disziplinen angehören, sind sie gezwungen, ihre fächerspezifischen Evidenzen explizit zu machen. Der erfolgende Informationsaustausch, ermöglicht es, die Quellenbasis zu verbreitern, Kenntnisse von Datenbanken zu erhalten, auf andere Forschergruppen hingewiesen zu werden und von relevanten Forschungsergebnissen und
-vorhaben zu erfahren, welche in Verbindung zu den jeweiligen Dissertationen stehen.

Mehrsprachige Handschriften werfen komplexe Fragen zu den Umständen ihrer Entstehung und ihrer Rezeption auf, die nur aus einer interdisziplinären Perspektive behandelt werden können.

Können Sie sich zur Auswahl der Keynote-Sprecher_innen äussern? Was macht ihre Beiträge besonders wertvoll für die Teilnehmenden?
Les conférenciers principaux de l’école doctorale sur les «Manuscrits multilingues du Moyen Âge» seront le professeur Marc Boone de l’Université de Gand, la professeur Elizabeth Tyler de l’Université de York et le professeur Fabio Zinelli de l’École pratique des hautes études de Paris. Il s’agit de trois éminents chercheurs dans les domaines de l’histoire médiévale, de la littérature anglaise médiévale et de la philologie romane respectivement, qui, dans le cadre de leurs activités de recherche et d’enseignement, ont accordé une grande attention aux relations entre les différentes langues et communautés linguistiques au Moyen Âge. Souvent situées à l’intersection de l’histoire intellectuelle, sociale et politique, leurs études bénéficient d’une approche interdisciplinaire et comparative. Leur contribution à l’école doctorale de notre Institut sera précieuse non seulement parce que leur travail constitue une approche modèle de l’étude des manuscrits multilingues, mais aussi parce qu’au cours des trois journées, ils pourront fournir un feedback immédiat et hautement qualifié aux présentations, questions et sollicitations des participant·e·s.

Was begeistert Sie persönlich an der Forschung zu mittelalterlichen Handschriften?
Jedes mittelalterliche Manuskript ist ein Unikat mit individuellen Eigenschaften, mit einer eigenen Geschichte. Keine Buchseite gleicht der anderen. Schon das macht die Arbeit mit einem Schriftstück, das zudem mehrere hundert Jahre überdauert hat, so spannend. Dass der Produktionsprozess überaus aufwändig und kostenintensiv war, sagt auch etwas aus über die grosse Bedeutung, die man den darin enthaltenen Texten beimass: die komplizierte Verarbeitung einer Tierhaut zu einer Pergamentseite, die Herstellung der Tinte, das kalligraphisch kunstvolle Beschreiben der Blätter und die mehrfarbige Ausstattung der Texte – all das machte ein Buch zu einer enormen Investition. Mittelalterliche Handschriften zeugen deshalb davon, dass gelehrte Traktate, aber auch volkssprachige Romane und Liebesgedichte als etwas überaus Wertvolles angesehen wurden. Wenn wir diese Texte heute in den originalen Manuskripten lesen, dann wird auf berührende Art deutlich, wie kostbar sie in den Augen der damaligen Kultur waren. In einer Wegwerfgesellschaft wie der unseren ist es besonders beeindruckend, mit mittelalterlichen Handschriften vor Augen geführt zu bekommen, dass diese genau dafür gemacht wurden, dass sie heute noch gelesen werden: hunderte von Jahren zu überdauern und jeder Generation neu ihre alten Geschichten zu überliefern.

Welche Entwicklungen oder Trends in der Mediävistik finden Sie derzeit am spannendsten, und wie spiegeln sich diese in Ihrem Kurs wider?
Die Mediävistik hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer komparatistischen, kulturübergreifenden Disziplin gewandelt. Das Interesse an «Nationalphilologien», das am Anfang der Fachgeschichte überwog, hat den Blick auf Kulturkontakte und Reiseaktivitäten mittelalterlicher Menschen beeinträchtigt. Unser Kurs erlaubt es hier, Korrekturen an althergebrachten Klischees vorzunehmen, indem wir uns mit französisch-englischen, deutsch-jiddischen oder arabisch-griechischen Handschriften beschäftigen.

L’histoire médiévale s’est construite traditionnellement surtout sur le travail du seul texte, même si depuis toujours elle a dû s’intéresser aux caractéristiques matérielles des sources pour s’assurer de leur authenticité. Depuis quelque temps, les historien·e·s médiévistes ont acquis la conviction qu’il est nécessaire de prendre en considération d’autres types de sources, textuelles – littéraires, par exemple -, iconographiques, mais aussi archéologiques. Si l’on ajoute le rôle croissant des humanités numériques, ce sont toutes les méthodes de la recherche historique sur le Moyen Âge qui sont renouvelées.

Am Interview beteiligt: Paolo Borsa, Cornelia Herberichs, Olivier Richard, Martin Rohde

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Das grosse Puzzle: Uni Freiburg setzt Geschichte neu zusammen /alma-georges/articles/2016/das-grosse-puzzle-uni-freiburg-setzt-geschichte-neu-zusammen /alma-georges/articles/2016/das-grosse-puzzle-uni-freiburg-setzt-geschichte-neu-zusammen#respond Wed, 01 Jun 2016 14:28:55 +0000 http://www3.unifr.ch/alma-georges/?p=2515 Was haben Fensterscheiben, Schuhe, Truhen, Sättel, Hauswände und Bücher gemeinsam? Sie alle wurden im Mittelalter und in der frühen Neuzeit mitunter aus Makulatur von Pergamenthandschriften gefertigt. Was erst als Schriftstück diente, erhielt eine neue Aufgabe als Isolationsmaterial, Verkleidung oder Stabilisierung – wenig wurde weggeworfen. Und genau davon profitiert die Wissenschaft heute.

An der Universität Freiburg wird Geschichte zusammengesetzt – aus Hunderttausenden von Fragmenten, die rund um den Globus versteckt sind. Was vor ein paar hundert Jahren als Makulatur verwendet wurde um Ressourcen zu schonen, erzählt die Geschichte der Menschheit teilweise auf eine ganz neue Art. Im evangelisierten Skandinavien beispielsweise wurden im 16. Jahrhundert die mittelalterlichen Handschriften, die in katholischen Klöstern entstanden waren, als Einbandmakulatur verarbeitet. Damit wurden etwa behördliche Akten eingebunden. Gerade in den nordischen Ländern gibt es seit der Reformation fast keine vollständigen Handschriften mehr, aber zehntausende von Fragmenten. Deshalb wurde dort bereits im letzten Jahrhundert damit begonnen, die Teile von liturgischen Handschriften wie Antiphonare, Psalter oder Graduale in den Akten zu beschreiben.


An der schwarzen Stelle befand sich eine Buchmalerei, die herausgeschnitten wurde. Orselina, Convento della Madonna del Sasso, Codice I, f. 24v – Graduale Fratrum Minorum.

Unsichtbares entziffern

Dank der Wiederverwendung von aussortierten Büchern (Makulierung) ist ein wichtiger Teil des mittelalterlichen Handschriftenerbes bis heute nicht verloren gegangen. „Auch wenn häufig nur wenige Seiten eines alten Codex wieder rekonstruiert werden können, gibt das für die Forschung einen enormen Aufschluss über die Textgeschichte einerseits und den Umgang mit Handschriften(-fragmenten) andererseits“, betont Projektmitarbeiter und Freiburger Forscher Martin Wünsche. Die Fragmente müssen jedoch speziell behandelt und neu zusammengesetzt werden, damit wir sie richtig erforschen können. Zum Heben dieser Schätze müssen aber nicht nur exakt die passenden Teile zusammenfinden – sie müssen auch noch entziffert werden. Viele Fragmente wurden etwa abgeschabt oder abgewaschen und überschrieben. Dank neuesten Techniken wie Spektralphotographie oder RTI (Reflectance Transformation Imaging) können nun auch Schriften, die nicht von blossem Auge sichtbar sind, wieder gelesen werden. Nur sind genau diese Bruchstücke oft auch in der ganzen Welt verstreut. Das heisst, was im Jahre 900 ein Buch war, wurde vielleicht als Makulatur teilweise zu einem Schuh, später zu Isolationsmaterial und schliesslich zum Abdichten eines Burggrabens verwendet. Eine weitere halbe Seite könnte sogar den Weg als Verpackungsmaterial bis nach Asien zurückgelegt haben.

Abb3Corr
Der Text (dunkle Schrift im Hintergrund) wurde abgeschabt und das Pergament wiederbeschrieben. Dank Spektralfotografie, die UV-Licht und Röntgenstrahlung nutzt, wieder sichtbar. Syriac Galen Palimpsest, f. 88v. Pseudocolor-processed image provided by Michael B. Toth.

Social Media der Mediävisten

Neue Technologie schafft auch in der Mediävistik neue Wege: Schon seit 2005 digitalisiert e-codices Handschriften aus der ganzen Schweiz. „Ziel des Projektes ist es, alle mittelalterlichen und eine Auswahl neuzeitlicher Handschriften der Schweiz durch eine virtuelle Bibliothek frei zugänglich zu machen“, erklärt die Freiburger Forscherin und Projektmitarbeiterin Veronika Drescher. Zurzeit sind 1500 digitalisierte Handschriften in diesem Online-Verzeichnis verfügbar. Auf der gleichen Basis baut nun auch ein weiteres Projekt auf: Fragmentarium – das Laboratorium zur digitalen Fragmentforschung. Dieses Online-Verzeichnis ist spezifisch für die komplexen Anforderungen zur Darstellung von Fragmenten konzipiert. Hier sollen die Nutzer in Zukunft auch selbst hochauflösende Fragmente hochladen und beschreiben. Diese sind dann sofort für alle beteiligten Forschenden verfügbar, das heisst, sie können von ihrem Computer aus Abstände abmessen, Texte transkribieren, Rekonstruktionen erstellen und vieles mehr. Ziel ist es, dadurch zusammengehörige Fragmente schneller und vor allem auch günstiger wieder zueinander zu bringen.


Die sichtbaren Buchstaben sind das spiegelverkehrte Abbild einer Pergamentmakulatur, die dort aufgeklebt worden war. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 63, Vordere Innenseite – Epistolae Pauli. Actus Aposto-lorum. Epistolae catholicae. Apocalypsis.

Vorausgesetzt, die Bedeutung einzelner Fragmente wird nicht verkannt. Dies geschah so zum Beispiel mit einem alternativen Ende von 1001 Nacht. Die NZZ berichtete vor kurzem darüber: „Ganz neu ist dieses glückliche Ende der Geschichte nicht: Der frisch vorliegende Schluss von „1001 Nacht“ basiert auf einem Manuskript, das sich in der Raşit-Efendi-Bibliothek in Kayseri befindet und 1949 durch den Orientalisten Hellmut Ritter (1892-1971) erstmals beschrieben wurde. Ritter liess damals einen Mikrofilm der Handschrift anfertigen, der aber weitgehend unbeachtet blieb. Erst als dieser Mikrofilm vor einigen Jahren digitalisiert und ins Netz gestellt wurde, erwachte das Interesse der Wissenschaft, und auch dasjenige der Übersetzerin und Arabistin Claudia Ott.“ Genau diesen Weg zu Erfolgsgeschichten wollen die Freiburger Forschenden mit Fragmentarium ermöglichen und fördern.

Experten pilgern nach Freiburg

Das Projekt stösst auf enormes Interesse. Auf der Liste der Partner finden sich als Vertreter der Amerikanischen Ivy League die Universitäten Stanford, Yale und Harvard, aber auch die Bodleian Library der Universität Oxford sowie die Österreichische Nationalbibliothek in Wien und die Stiftsbibliothek St.Gallen. Wer in der Handschriftenforschung etwas zu sagen hat, ist mit dabei. Aktuell arbeiten die Freiburger Forschenden an sechs Fallstudien in Oxford, Yale, Paris, Wien, St. Gallen und Leipzig, 2017 folgen nochmals sechs weitere. Dank der Interoperabilität der neuen Plattform Fragmentarium können die Partner einfach und global zusammenarbeiten. „Wir freuen uns sehr über das Interesse an unserer Arbeit. Als Mediävisten sind wir uns nicht so viel Aufmerksamkeit gewohnt!“, so Prof. Dr. Christoph Flüeler, Leiter des Projekts. Fragmentarium entstand aus der Handschriftenforschung und ermöglicht eine ganz neue Art der Zusammenarbeit: „Die einzelnen Teile sind schwer zugänglich und es gibt bisher kaum systematische Kataloge im Gegensatz zu mittelalterlichen Handschriften“, erklärt der Freiburger Forscher. Dies soll sich in Zukunft ändern. Flüeler und sein Team koordinieren die Unterstützung aus der ganzen Welt. Die Hoffnung auf neue Erkenntnisse dank dem „Facebook der Mediävisten“ ist gross. Das Team um Flüeler ist gespannt auf die Ergebnisse: „Wenn man unbekanntes Material erforscht, kann es immer Überraschungen geben. Und Fragmente bergen entsprechend grosses Potential.“

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  • Der findet vom 6. bis 8. Juni in Freiburg statt. Hierbei werden Workshops durchgeführt, geplante Forschungsprojekte diskutiert und die neue Plattform vorgestellt.
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