Literaturwissenschaft – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Fri, 14 Feb 2025 16:18:31 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Mit Familiengeschichten gegen das Narrativ vom heroischen Widerstand /alma-georges/articles/2025/mit-familiengeschichten-gegen-das-narrativ-vom-heroischen-widerstand /alma-georges/articles/2025/mit-familiengeschichten-gegen-das-narrativ-vom-heroischen-widerstand#respond Fri, 14 Feb 2025 16:18:31 +0000 /alma-georges?p=21995 Erinnerungskulturelle Familienromane sind ein gutes Medium, um gesellschaftliche und historische Themen zu vermitteln. Germanistin Emily Eder zeigt in ihrem Buch auf, welches Bild von der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in der zeitgenössischen Deutschschweizer Literatur gezeichnet wird.

«Es wird hinterfragt, infrage gestellt. Kann das wirklich so gewesen sein? Wie kann es sein, dass die offizielle Darstellung nicht mit dem übereinstimmt, was sie erlebt haben?» So beschreibt Emily Eder die Herangehensweise der drei Autoren Christoph Geiser, Thomas Hürlimann und Urs Widmer, deren Werke sie für ihre Dissertation analysiert hat. Sie setzte sich mit der Frage auseinander, wie in erinnerungskulturellen Familienromanen die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg dargestellt wird.

«In Deutschland und in Österreich ist das ein grosses Forschungsfeld. Viele Autor_innen haben über das geschrieben, was sie an Unterlagen bei ihren Eltern und Grosseltern auf dem Dachboden gefunden haben. Es gibt daher sehr oft einen autobiografischen Bezug. Das hat mich neugierig gemacht zu schauen, wie es in der Schweiz aussieht», erklärt die in Köln aufgewachsene Eder, wie sie auf die Idee für das Thema kam. Denn die Schweiz stellte im Kontext dieser Forschung einen blinden Fleck dar. «Also habe ich angefangen, viel zu lesen und dabei festgestellt, dass der Zweite Weltkrieg auch in der Deutschschweizer Literatur ein Thema ist. Es ist letztendlich nicht überraschend, denn weder die Schweiz noch ihre Literatur sind losgelöst vom europäischen Kontext.»

Besonders interessant sind Geiser, Hürlimann und Widmer vor dem Hintergrund, dass ihre Werke mehrheitlich in die Zeit fallen, in der das Narrativ vom heroischen Widerstand, das die offizielle Schweiz lange Zeit aufrechterhielt, zu bröckeln begann. Eine Zeit, in der die 1996 vom Bundesrat eingesetzte «Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg» genauer hinschaute.

Kritik in verschiedenen Formen
Welches Bild der Schweiz zeichnen Geiser, Hürlimann und Widmer? «Kein einheitliches. Aber alle hinterfragen auf ihre eigene Art, in ihrem spezifischen Kontext, das Narrativ vom heroischen Widerstand.». Urs Widmer etwa beschreibt im 2004 erschienenen Roman «Das Buch des Vaters» aus der Perspektive eines Kindes ­– es handelt sich dabei um ihn selbst als kleinen Jungen –, wie sein Vater eingezogen wurde und wie er die Réduit-Strategie wahrgenommen hat. «Es ist alles literarisiert und fiktionalisiert, entsprechend schwierig ist zu beurteilen, wie weit sich die geschilderte Szene wirklich so abgespielt hat», sagt Eder. «Aber die Kritik wird in einer besonders eindrucksvollen Passage deutlich, weil nicht klar wird, ob der erzählende Sohn die Gedanken des Vaters wiedergibt oder ob er selbst diese kommentiert. Beide Lesarten sind möglich. Er stellt sinngemäss die Fragen: Wie hätten die Soldaten im Réduit die Schweiz verteidigen können? Und was sollte dann mit allen anderen Personen in der Schweiz geschehen?»

Thomas Hürlimann, der selbst entfernt jüdische Vorfahren hat, zeigt seinerseits wiederholt auf, wie jüdisches Leben in der Schweiz aussah. Etwa im 2006 erschienen Roman «Vierzig Rosen». «Dort gibt es das Tagebuch der Mutterfigur, das zumindest an das Tagebuch von Anne Frank erinnert, wenn nicht daran angelehnt ist. Es wird dargestellt, dass jüdische Menschen von der Schweizer Bevölkerung teilweise feindlich behandelt wurden.»

Christoph Geiser wiederum setzt sich in erster Linie kritisch mit der bürgerlichen Schicht auseinander. «Wichtiger Bezugspunkt ist sein Grossvater Hans Frölicher, der während des Zweiten Weltkriegs Diplomat in Berlin war und von der offiziellen Schweiz später als Sündenbock dargestellt wurde, weil er die Schweiz aus eigenem Antrieb zu deutschlandfreundlich vertreten habe. Vereinfacht müsste man rückblickend sagen, ihn als Sündenbock zu instrumentalisieren ist sicher nicht richtig, ein vorbildlicher Diplomat war er jedoch auch nicht.» Geiser kannte seinen Grossvater, und auch die Dokumente, die er von seiner Mutter erhielt, zeichneten ein differenziertes Bild. «Das ist etwas, was alle drei Autoren machen: Sie stellen dem historischen Ganzen ein Privatleben gegenüber, geben Einblicke in Alltagssituationen. Sie ergänzen somit die historische Perspektive.»

Der Familienroman hat mehrere Stärken
Das ist für Emily Eder genau die Stärke des Familienromans, wenn es um die Vermittlung relevanter gesellschaftlicher und historischer Themen geht. «Wir alle stecken in einem familiären Beziehungsgeflecht. Entsprechend haben wir Anhaltspunkte, um an das anzuknüpfen, was uns literarisch vermittelt wird. Dadurch können wir diese Fragen womöglich innerhalb unserer eigenen Familie stellen – bei mir war das der Fall», sagt Eder. «In der Familie kann über verschiedene Generationen Erlebtes weitergegeben werden ­– oder eben gerade nicht. Es kann Tabus geben, fehlende Kommunikation, sodass wir erst nach dem Tod der Eltern oder Grosseltern merken, warum Beziehungen dysfunktional waren. Deshalb sind die Familienromane, gerade wenn sie einen autobiografischen Gehalt haben, sehr aufschlussreich.»

Die drei Autoren nehmen stellenweise die Perspektive ihrer Eltern ein, versuchen, sich in sie hineinzuversetzen, zeigen oft aber auch Generationenkonflikte auf. «Das ist das Potenzial von Literatur. Sie ist ein Medium, das uns erlaubt, etwas über andere Menschen zu lernen. Darüber, was es heisst, überhaupt Mensch zu sein, weil wir in die Gedanken von anderen Menschen schlüpfen können. Aber auch, um in der Zeit zurückzugehen und Einblicke in andere politische Systeme und historische Momente zu erhalten. Das können andere Medien zwar auch, aber über die Literatur verläuft die Auseinandersetzung viel langsamer und persönlicher.»

Der Einfluss von Literatur als Spiegel der Gesellschaft
Wie gross also ist der Einfluss von Literatur auf die Wahrnehmung eines bestimmten Themas in der Gesellschaft? Auf die Geschichtsschreibung oder Geschichtsumschreibung? «Das hängt immer auch davon ab, wie und von wem die Literatur rezipiert wird. Meiner Ansicht nach könnte der Einfluss grösser sein – aber das scheint eine der Herausforderungen der Geisteswissenschaften zu sein.» Emily Eder will ihren Teil dazu beitragen, den gesellschaftlichen Dialog durch Literatur und die Forschung darüber anzukurbeln. Auch deshalb hat sie die Möglichkeit genutzt, ihre Dissertation mit SNF-Geldern als Buch zu publizieren. Nicht ohne Stolz hat sie es vor kurzem in einer grossen Buchhandlung in Bern entdeckt. «Es wird kein Bestseller werden, die meisten Leute lesen vor dem Einschlafen keine Dissertationen», sagt Emily Eder mit einem Schmunzeln. «Aber vielleicht kann ich ein wenig Neugier wecken, womöglich liest jemand Bücher dieser Autoren plötzlich mit einer anderen Brille und macht sich zusätzliche Gedanken. Das wäre bereits ein Gewinn.»

Dr. Emily Eder hat Germanistik, französische Sprache und Literatur sowie Komparatistik an den Universitäten Freiburg und Köln studiert. Heute arbeitet sie als Studiengangskoordinatorin und pädagogische Beraterin in der Abteilung Medizin an der Universität Freiburg. Literatur nimmt in ihrem Leben immer noch einen wichtigen Platz ein, man trifft sie beispielsweise beim Literaturprogramm im Kino Korso.

Das 232-seitige Buch «Der Zweite Weltkrieg in der Deutschschweizer Literatur – Erinnerungskulturelle Familienromane von Christoph Geiser, Thomas Hürlimann und Urs Widmer» ist 2024 im Chronos Verlag erschienen.

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  • E-Book (pdf) kostenlos

 

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Fiktionalität – Vorstellungskraft – Handeln /alma-georges/articles/2022/fiktionalitat-vorstellungskraft-handeln /alma-georges/articles/2022/fiktionalitat-vorstellungskraft-handeln#respond Mon, 05 Dec 2022 08:18:02 +0000 /alma-georges?p=17039 Victor Lindblom wurde am Dies academicus 2022 der Unifr mit dem Vigener-Preis geehrt. Ein Gespräch über eine Arbeit, die viele begeistert. 

Victor Lindblom, Ihre Dissertation trägt den Titel «Vorstellungen und Überzeugungen – Zur Grenzziehung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählwerken mit Untersuchungen zu Max Frischs Montauk und Lukas Bärfuss’ °­´Ç²¹±ô²¹Â». Darin befassen Sie sich mit der Bestimmung der Fiktionalität eines Textes.

Was genau muss mensch sich darunter vorstellen und warum ist das Konzept umstritten?
Fiktionalität und Nichtfiktionalität sind Eigenschaften, die wir verschiedenen Formen sprachlicher Äusserungen innerhalb der zwischenmenschlichen Kommunikation zuschreiben. Im Alltag ist unser intuitives Verständnis der Konzepte oft ausreichend, um zu wissen, womit wir es zu tun haben. Die Frage, worauf diese Praxis im Detail beruht – warum wir also einer einzelnen Äusserung, einer Erzählung oder einem komplexen Erzählwerk die Eigenschaft zuschreiben, fiktional oder nichtfiktional zu sein – wird hingegen immer wieder neu diskutiert.

Dabei haben sich innerhalb der fiktionstheoretischen Debatte der letzten 30 Jahre zwei Grundideen mehr oder weniger deutlich durchgesetzt. Erstens wird die Auffassung breit geteilt, dass Fiktionalität primär ein pragmatisches Phänomen ist – also ein Ergebnis eines bestimmten sprachlichen Handelns. Zweitens hat sich die Idee etabliert, dass der Begriff der Fiktionalität über dessen Beziehung zur Vorstellungskraft bestimmt werden sollte.

Innerhalb des Rahmens dieser zwei Grundideen stellt sich damit die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Fiktionalität, der Vorstellungskraft und dem Handeln von Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Lesern. Hier gibt es verschiedene Vorschläge, die sich zwar nur in ihren Details unterscheiden – auf diese Details kommt es jedoch an. Ich baue auf diesen Vorschlägen auf und habe versucht, einige Probleme zu lösen, die mir bisher ungelöst erschienen.

Warum haben Sie ausgerechnet Montauk von Max Frisch und Koala von Lukas Bärfuss ausgesucht, um Ihre eigene Theorie der Fiktionalität zu entwickeln? Was haben beide gemeinsam?
Montauk und Koala sind Erzählwerke, deren Fiktionalitätsstatus notorisch umstritten ist: manche halten die Werke für fiktional, andere für nichtfiktional; manche gehen von Mischungen aus fiktionalen und nichtfiktionalen Teilen aus, andere halten den Fiktionalitätsstatus schlicht für unbestimmbar. Gerade weil es sich um umstrittene Fälle handelt, eignen sie sich meines Erachtens jedoch besonders gut, um die Leistungsfähigkeit verschiedener Fiktionstheorien zu testen, Stärken und Schwächen zu entdecken und auf diesen Beobachtungen aufzubauen. Hinter diesem Vorgehen steht die Idee, dass eine leistungsfähige Fiktionstheorie nicht nur mit eindeutigen Fällen umgehen können sollte, sondern auch mit umstrittenen und komplexen Fällen wie Montauk und Koala.

Für die Auswahl spielten aber auch rein persönliche Gründe eine Rolle: Ich finde Montauk und Koala sowohl vom Gehalt als auch von der Machart her spannend.

Und wie lautet Ihre Theorie in einfachen Worten?
Ich formuliere insgesamt sechs Definitionen (fiktionale bzw. nichtfiktionale Äusserungen, Erzählungen, Erzählwerke) und eine Analysemethode aus, weshalb eine Zusammenfassung nicht einfach ist. Trotzdem kann ich drei zentrale Punkte herausstreichen.

Erstens geht die Theorie, wie viele andere auch, davon aus, dass Fiktionalität und Nichtfiktionalität ausschliesslich vom sprachlichen Handeln der Autorin oder des Autors abhängt. Der grundlegende Unterschied zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität beruht auf der geforderten Haltung gegenüber dem jeweils geäusserten Gehalt: Die Leserschaft soll sich, kurz gesagt, entweder vorstellen, dass etwas der Fall ist oder glauben, dass etwas der Fall ist.

Zweitens geht die Theorie davon aus, dass Fiktionalität und Nichtfiktionalität nicht in je einer Definition bestimmt werden können. Es braucht vielmehr verschiedene, aufeinander aufbauende Definitionen für verschiedene Ebenen: von der Mikroebene der einzelnen Äusserung, der Mesoebene der Erzählung bis zur Makroebene des Erzählwerkes. Hier baue ich auf den Theorien von Gregory Currie, Kathleen Stock und David Davies auf, kombiniere diese und passe die Definitionen an die Bedürfnisse der Literaturwissenschaft an.

Victor Lindblom

Drittens geht die Theorie davon aus, dass Erzählwerke Mischungen sein können aus fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen. Die Klassifikation auf der Werkebene hängt bei solchen Mischfällen davon ab, in welcher Beziehung die Erzählungen stehen. Im Rahmen einer Interpretation muss dann eine Hypothese formuliert werden, von welcher Erzählung die Bedeutung des Werks entscheidend abhängt.

Mein Lösungsvorschlag für Montauk und Koala lautet zuletzt, dass es sich in beiden Fällen um Mischfälle aus fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen handelt. Diese Erzählungen stehen auf der Ebene des Werks jedoch in einem anderen Funktionszusammenhang. In Montauk hängt die Werkbedeutung entscheidend von den nichtfiktionalen Erzählungen ab – in Koala jedoch von den fiktionalen Erzählungen.

Wie aktuell ist Max Frisch eigentlich noch? Angenommen, er würde noch leben. Was würden Sie ihn gerne fragen?
Wenn die Frage auf die literarische Qualität seines Werks zielt, dann bleibt Max Frisch meiner Lektüreerfahrung nach aktuell. Aus thematischer Perspektive sehe ich es ähnlich: Insbesondere das Ringen mit der existentiellen Frage nach dem eigenen Ich scheint mir kein Ablaufdatum zu haben. Dürrenmatt hat bekanntlich in einem Brief geschrieben, Frisch habe «seinen Fall zur Welt» gemacht. Frisch schreibt zwar oft über Frisch – in Montauk sowieso –, es geht ihm dabei meines Erachtens aber letztlich um das Individuum als solches.

Ich würde wohl vor allem konkrete Fragen zu einzelnen Werken stellen, die mich selbst beschäftigt haben. Zum Beispiel, was es mit der Zahnarztepisode in Stiller auf sich hat – oder ob er in Montauk absichtlich auf Alice im Wunderland verweist, um so die Identität der im Text «Lynn» genannten Frau preiszugeben.

Lukas Bärfuss hat den Ehrendoktortitel von der Philosophischen Fakultät erhalten. Hatten Sie am Dies Academicus die Möglichkeit, ihn persönlich kennenzulernen? Kennt er Ihre Dissertation?
Wir hatten schon vorher ein wenig Kontakt und er hatte mich bereits gefragt, ob er die Arbeit lesen dürfe. Er scheint interessiert an der Forschung und darüber Bescheid zu wissen. Nach dem Dies Academicus haben wir dann Bücher ausgetauscht: Sekundärliteratur gegen Primärliteratur quasi.

Schreiben Sie selbst literarisch?
Nein.

Was bedeutet Ihnen der erhaltene Vigener-Preis?
Am meisten freut mich daran, dass die Arbeit nicht nur für ein enges Publikum innerhalb des eigenen Faches verständlich zu sein scheint.

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  • Der Vigener-Preis wurde 1908 nach einer Spende von Joseph Vigener ins Leben gerufen. Er wird für herausragende Doktorarbeiten verliehen. Die Fakultäten der Universität Freiburg verleihen diese Preise anlässlich des Dies Academicus.
  • Webseite von Victor Lindblom
  • Webseite des Departements für Germanistik
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Going Norte – Migrationsgeschichten in Spanglish /alma-georges/articles/2020/going-norte-migrationsgeschichten-in-spanglish /alma-georges/articles/2020/going-norte-migrationsgeschichten-in-spanglish#respond Wed, 14 Oct 2020 15:11:00 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=11732 Die Latinos sind bereits heute die grösste Minderheit in den USA. Welche Geschichten erzählen sie sich? Welche Bücher schreiben sie? Sebastian Imoberdorf ist diesen Fragen nachgegangen und hat dafür den Vigener-Preis erhalten. Ein Gespräch über Migration, Identitäten und den American Dream.

Herr Imoberdorf, Sie haben zur Literatur der Latinos in den USA doktoriert und dafür kürzlich den Vigener-Preis erhalten. Welche drei US-lateinamerikanischen Bücher sollte man denn gelesen haben – und weshalb?
Das ist keine leichte Aufgabe! Die US-Latino-Literatur ist breit, vielfältig und von hoher Qualität. Müsste ich mich auf drei Titel beschränken wären es die folgenden:

– Ein Klassiker ist sicherlich El Corrido de Dante [«Dantes Corrido»] von Eduardo González Viaña, der mit einem ironischen Augenzwinkern die Migration von Latinos in die USA thematisiert. Er stellt sie in Anlehnung an Dante Alighieris Göttlicher Komödie als Reise durch Hölle und Fegefeuer dar, die am Schluss ins vermeintliche Paradies führen soll.

– Als zweites würde ich den Roman Más allá del invierno [«Ein unvergänglicher Sommer»] von Isabel Allende nennen, der das Zeitgeschehen aufgreift und als Kritik am amtierenden US-Präsidenten und seiner Migrationspolitik gelesen werden kann.

– Eines meiner Lieblingsbücher ist jedoch Norte [«Norden»] von Edmundo Paz Soldán. Es skizziert sehr individuelle Migrationserfahrungen, hinterfragt stereotype Vorstellungen und verknüpft gekonnt verschiedene Genres, wie etwa den Migrations- und den Kriminalroman.

Wie sind Sie denn persönlich zu diesem Thema gekommen?
Migration beschäftigt mich schon lange. Auch meine eigene Familie besitzt eine kleine Migrationsgeschichte: Einige meiner Vorfahren sind im 19. Jahrhundert nach Argentinien ausgewandert, mein Grossonkel nach Kalifornien. Als ich an der Universität Freiburg ein Seminar zum Thema «US-Latino-Literatur» besuchte, fing ich unverzüglich Feuer und wusste, dass ich mich mit der Thematik vertieft auseinandersetzen wollte. Ich denke, dass das Migrationsthema immer schon gegenwärtig war, dass es aber im aktuell angespannten politischen Klima polemisch debattiert wird und auch künftig immer wieder hitzig diskutiert werden wird. Migrationsbewegungen gab es seit jeher und wird es auch immer geben. Das wird sich auch mit den stärksten Mauern nicht ändern lassen.

Mit welchen Themen setzen sich die US-Latino-Autor_innen denn besonders auseinander?
Die Frage der Identität beschäftigt die meisten Schriftsteller_innen. Dieser Diskurs hat sich in den letzten Jahrzehnten aber stetig weiterentwickelt. Während es in den ersten Werken vor allem um eine kollektive kulturelle Identität ging, hat sich die Identitätsfrage heute vervielfältigt und differenziert, was Verallgemeinerungen entgegenwirkt und die komplexe, heterogene Realität besser darstellt.

In meiner Dissertation stelle ich für die Literatur des neuen Jahrtausends zwei Tendenzen fest. Erstens kommen die Autor_innen davon ab, kollektive Migrationserfahrungen zu beschreiben. Sie bevorzugen individuelle Geschichten. Und zweitens gewinnt neben der kulturellen auch die soziale und sexuelle Identitätsbildung an Bedeutung. Es geht heute nicht mehr nur darum zu fragen, wer die Latinos sind, sondern wer die Latina bzw. der Latino ist. Immer häufiger wird auch der geschlechtergerechte Terminus «Latinx» verwendet.

Diese individuellen Migrationserfahrungen führen die Latinos aus eher konservativen in eine liberalere Gesellschaft. Finden die «Latinx» in den USA grössere Freiheiten? Und wie ergeht es da insbesondere Frauen und LGBTQI?
Das ist in der Tat so. Insbesondere Latinas und Mitglieder der LGBTQI-Gemeinschaft migrieren von einem Umfeld, das noch viel stärker von patriarchalischen und heteronormativen Strukturen geprägt ist in ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der soziokulturellen Diversität. Das klingt positiv, die Wirklichkeit sieht jedoch häufig etwas anders aus. Dies zeigt zum Beispiel der Erzählband Historias prohibidas de Marta Veneranda [«Die verbotenen Geschichten von Marta Veneranda»] der lesbischen Autorin Sonia Rivera-Valdés. Den vorwiegend weiblichen Figuren fällt es oft schwer, in der neuen Heimat eine Rolle zu finden, die sich nicht ausschliesslich auf das Häusliche beschränkt. Sie haben Mühe, sich aus dem auferlegten Korsett der Ursprungsgesellschaft zu lösen und soziale Normen und Tabus zu durchbrechen. Interessant ist dabei, dass auch die lesbischen Figuren die von ihrer Ursprungskultur geerbten Rollenverteilungen (aktiv vs. passiv) im neuen Kontext zunächst reproduzieren, sie dann aber hinterfragen und schliesslich aufzuheben versuchen. Zu all diesen Schwierigkeiten kommt die Konfrontation mit rassistischen Verhaltensmustern hinzu, die die Eingliederung in die Gastgesellschaft zusätzlich erschweren.

Wie wird denn die Migration in der US-Latino-Literatur beschrieben? Mit welchen Hoffnungen machen sich die Leute auf den Weg und auf welche Schwierigkeiten stossen sie?
Die Motive für die Migration sind sehr vielfältig. Ein häufiger Auslöser ist die instabile politische Lage in den lateinamerikanischen Ländern – etwa die Diktaturen, die Bürgerkriege oder auch der Drogenhandel in Kolumbien und Mexiko. In Zusammenhang damit kann der Wunsch nach freier sexueller Entfaltung stehen. In Reinaldo Arenas novellistischer Autobiografie Antes que anochezca [«Bevor es Nacht wird»] geht es zum Beispiel um die Verfolgung von Homosexuellen unter dem Castro-Regime, während welchem viele Mitglieder der LGBTQI-Gemeinschaft aus Kuba flohen. El sueño de América [«Américas Traum»] von Esmeralda Santiago wiederum handelt von häuslicher Gewalt und davon, wie die puerto-ricanische Protagonistin América diesen Teufelskreis durchbricht, indem sie in New York ein selbstständiges, neues Leben beginnt. Und nicht zuletzt ist der vielzitierte American Dream ein wiederkehrendes Motiv. Viele Latinos migrieren gen Norden, weil sie dort Arbeit, Erfolg und bessere Lebenskonditionen für sich und ihre Familien zu finden hoffen. Diese Vielfalt von Gründen spiegelt auch die Realität wider, denn jede Migrationsgeschichte ist individuell.

Auf dem Weg in die USA lauern vor allem auf «illegale» Migranten viele Gefahren. Aufgrund ihres irregulären Status wählen sie versteckte und gefährliche Wege und durchqueren etwa den Río Bravo oder die Wüste. Andere reisen auf dem Dach des Güterzugs La Bestia [«Die Bestie»], wo sie Gefahr laufen, herunterzufallen oder von kriminellen Banden ausgeraubt und, im Falle der weiblichen Migrantinnen, vergewaltigt zu werden. All dies wird in der US-Latino-Literatur thematisiert und beschrieben.

Die Latinos sind die grösste Minderheit in den USA. Es gibt mehr Latinos, als Schwarze. Wo leben diese Leute? Was arbeiten sie? Und wie finden die Latinos einen Platz in den USA?
Einmal in den USA angekommen warten weitere Schwierigkeiten auf die Latinos: der Kulturschock, das Fehlen von Papieren und folglich von Arbeit. In meiner Dissertation habe ich mich auf das Konzept der Akkulturation berufen, in dem untersucht wird, inwieweit sich die Migrant_innen in die Gastgesellschaft eingliedern. Lehnen sie die neue Kultur ab und führen sie ihr altes Leben in sogenannten Enklaven weiter? Integrieren sie sich, ohne dabei Werte und Gepflogenheiten zu verlieren? Oder passen sie sich sogar so stark an, dass sie mit ihrer Ursprungskultur brechen? Auch hier sind die Erfahrungen in den Romanen sehr unterschiedlich. Im untersuchten Korpus werden dabei etwa Gastarbeiter ohne Papiere, Angehörige der Mittelklasse, aber auch Universitätsprofessoren dargestellt – was wiederum sehr gut der heterogenen Realität der Latinos in den USA entsprechen dürfte.

Wie steht es denn um die Erfolgsgeschichten?
Die gibt es natürlich. Jedoch erfüllt sich der American Dream nicht für alle, für manche wird er sogar zu einem American Nightmare. Die Idee, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen, wird den Latinos durch berühmte Persönlichkeiten wie etwa Jennifer Lopez, Salma Hayek, Ricky Martin oder Benicio del Toro vorgelebt. Dazu kommen die Erfahrungsberichte von Verwandten, die es in den USA «geschafft» haben, die sich ein regelmässiges Einkommen erarbeitet und ein neues Leben aufgebaut haben. Viele vergessen jedoch, dass solche Erfahrungen nicht für alle gelten und dass der Weg zum Erfolg ein langer und harter ist.

Die Migration (going west) und die Hoffnung auf ein besseres Leben sind eigentlich ur-amerikanische Motive. Kommt die Latino-Literatur denn auch ausserhalb der Community an? Und wird sie als amerikanische Literatur verstanden?
Die US-Latino-Literatur findet sogar sehr grossen Anklang. Beweise dafür sind das Erscheinen verschiedener Werke auf der New York Times bestseller list, die Schaffung von Latino ÌÇÐÄVolg-Lehrstühlen an zahlreichen Universitäten und die Diskussion der Thematik im akademischen wie auch im öffentlichen Leben. Verwunderlich ist dies nicht, wenn man bedenkt, dass fast 60 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA leben. Die US-Latinos sind mehr als eine Minderheit, sie sind eine Realität und ihre Literatur kann auf jeden Fall als amerikanische verstanden werden. Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, dass sie sowohl als nord- als auch als lateinamerikanische Literatur betrachtet werden kann.

Jedoch sollte meines Erachtens zwischen Englisch und Spanisch verfassten Texten unterschieden werden. Die englischen Werke stossen sicher in der Gesamtgesellschaft auf grösseres Interesse, da sie für ein breiteres Publikum zugänglich sind – auch für Latinos der dritten oder vierten Generation, die in die US-amerikanische Gesellschaft hineinwachsen und manchmal gar kein Spanisch mehr sprechen, aber auch für diejenigen englischsprachigen US-Amerikaner, die sich ganz einfach für die Thematik interessieren. Mein persönlicher Anreiz war es jedoch, in meiner Doktorarbeit die Romane spanischsprachiger US-Latinos zu behandeln, da deren Literatur, im Vergleich zur englischsprachigen, erst sehr rudimentär untersucht wurde. Darin sah und sehe ich weiterhin enormes Potential.

Welche Rolle spielt denn das Spanische heute im amerikanischen Alltag? Als ich vor einigen Jahren in Kalifornien war, sah ich beispielsweise zweisprachige Werbungen und Restaurants, die Stellen für Küchenpersonal gar ausschliesslich auf Spanisch ausschrieben.
Spanisch spielt im amerikanischen Alltag eine sehr grosse Rolle. Bereits jetzt ist es die erste und wichtigste Fremdsprache und gemäss Schätzungen sollen die USA im Jahr 2060 sogar das zweitgrösste spanischsprachige Land der Welt sein. Diese Entwicklung findet sich natürlich auch in der US-Latino-Literatur – in der spanisch- wie auch in der englischsprachigen. Die Romane weisen einen hohen Anteil an Spanglish (Mischform aus Englisch und Spanisch) auf und auch das sogenannte Code-Switching (Wechsel von einer Sprache zur andern innerhalb einer Äusserung) ist ein fester Bestandteil der Texte. Auffallend ist dabei, dass diese Stilmittel vor allem in Zusammenhang mit der Identitätsfindung benutzt werden.

Was denken Sie, worüber schreiben Latino-Autor_innen in 10, 20 oder 50 Jahren?
Einerseits werden sich US-Latino-Autor_innen wohl weiterhin am Zeitgeist orientieren. So überrascht es beispielsweise nicht, dass es bereits literarische Reaktionen auf die gegenwärtige Migrationspolitik gibt. Neben dem eingangs erwähnten Roman von Isabel Allende setzt sich auch der peruanisch-amerikanische Schriftsteller Eduardo González Viaña in La frontera del paraíso («Die Grenze zum Paradies») damit auseinander und schenkt dem aktuellen Präsidenten sogar eine explizite Widmung («Dieses Buch ist Donald Trump gewidmet, damit er weiss, wer wir sind und dass Hass eine absurde Sache ist»).

Zum anderen werden künftig wahrscheinlich weitere Tabus gebrochen und artistische Genres miteinander vermischt werden. Obwohl es bereits einige Werke zur sexuellen Identität von US-Latino-Autor_innen gibt, kann ich mir gut vorstellen, dass in den nächsten Jahren auch die Frage der Geschlechteridentität vermehrt thematisiert wird: Wie sieht beispielsweise die Migration von transsexuellen oder geschlechtsneutralen Migrant_innen aus? Aber auch das Vermischen verschiedener Gattungen ist ein Trend, der sich künftig akzentuieren wird. Schon heute gibt es Schriftsteller_innen, wie etwa Carmen María Machado oder Edmundo Paz Soldán, die das Thema der Migration in den Kontext der Horrorliteratur setzen. Andere stellen die Realität der US-Latinos in Graphic Novels dar.

Zum Schluss noch die Frage: Was waren denn die besonders schönen Momente im Verlauf Ihrer Diss?
Ein Highlight war sicher mein Forschungsaufenthalt an der University of California, Santa Barbara, wo ich mich in situ mit der Thematik auseinandersetzen konnte. Dabei habe ich viele namenhafte Experten kennengelernt und sogar Interviews mit ihnen geführt, die ich dann auch für meine Analyse verwenden konnte. Besonders bereichernd war während dieser Zeit auch der telefonische und schriftliche Kontakt zu einigen Autor_innen. So hatte ich unter anderem die Ehre, Isabel Allende und Edmundo Paz Soldán zu interviewen, die meiner Dissertation mit ihren interessanten Beiträgen nochmals eine ganz besondere und persönliche Note verliehen haben. Alle Interviews findet man übrigens im Anhang meiner Dissertation.

Sehr schön finde ich aber auch, dass die US-Latino-Literatur auch bei meinen Studierenden grossen Anklang findet und ich sogar schon Vorschläge für Bachelor- und Masterarbeiten erhalten habe. Ich bin zuversichtlich, dass daraus viele interessante Studien hervorgehen werden. Und natürlich werde auch ich selbst mich weiterhin diesem Thema widmen und neue Tendenzen mitverfolgen.

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  • Mit dem 1908 gestifteten , der mit mindestens 1000 Franken dotiert ist, werden herausragende Doktorarbeiten ausgezeichnet. Der Vigener-Preis wurde in diesem Jahr ex-aequo an und an verliehen. Den Bericht zur anderen Dissertation finden Sie .
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