Matthias Fasel – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Fri, 16 May 2025 20:32:34 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Ask A Scientist: Kann künstliche Intelligenz schlauer als der Mensch sein? /alma-georges/articles/2025/ask-a-scientist-kann-kunstliche-intelligenz-schlauer-als-der-mensch-sein /alma-georges/articles/2025/ask-a-scientist-kann-kunstliche-intelligenz-schlauer-als-der-mensch-sein#respond Wed, 14 May 2025 09:47:15 +0000 /alma-georges?p=22300 Die Alma&Georges-Serie «Ask A Scientist» richtet sich nicht nur an Kinder, sondern an alle wissenshungrigen Menschen, die gerne neugierig nachfragen und Phänomenen auf den Grund gehen. In jedem Beitrag stellt eine junge Person oder Familie eine wissenschaftliche Frage – und unsere Prof(i)s liefern die Antwort.Ìý

Familie Fasel fragt: Kann künstliche Intelligenz schlauer als der Mensch sein?

Liebe Familie Fasel

Das ist eine sehr tiefe und wichtige Frage, die uns Forscher_innen immer noch beschäftigt. Sagen wir doch zuerst, was wir mit Intelligenz meinen. Wenn wir von Intelligenz reden, meinen wir, dass eine Person die Fähigkeit hat, Probleme zu lösen und aus Erfahrungen zu lernen. Für sich genommen sind dies Eigenschaften, die eine Künstliche Intelligenz (KI) auch erfüllt. Beispielsweise gibt es schon heute eine KI, die besser Schach spielt als der Mensch. Es gibt auch bereits einige KIs, die schwierige Rechenaufgaben schneller und sorgfältiger als Menschen lösen. Und nicht zuletzt gibt es auch KIs, die grosse Mengen an Informationen viel schneller als jeder Mensch verarbeiten können, zum Beispiel, wenn es um Suchergebnisse im Internet geht.

In bestimmten Bereichen gibt es daher schon heute KIs, die schlauer als wir Menschen sind. Aber vielleicht sollte man eher sagen, dass diese KIs in ihren Aufgaben besser als Menschen sind. Das macht sie aber nicht unbedingt schlauer, denn zu Intelligenz gehört ja auch die Fähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten und sich daran anzupassen. Eine KI, die sehr gut Schach spielt, kann beispielsweise nicht auch noch gut rechnen. Im Gebiet des «Maschinellen Lernens» sind wir Forscher_innen sehr daran interessiert, immer bessere KIs zu bauen. Ob einige davon aber wirklich intelligent sind oder sein werden, das heisst, ob sie auch die Fähigkeit haben, sich an neue Situationen anzupassen, ist eine strittige Frage. Heute sieht es noch nicht danach aus, denn Intelligenz ist ein sehr kompliziertes Thema. Wenn wir in die Zukunft schauen, wird es wohl schon irgendwann KIs geben, die intelligenter als wir Menschen sein könnten. Es ist allerdings noch nicht absehbar, wann dies erfolgen wird. Trotz der grossen und tollen Fortschritte, die wir in viele Gebieten machen, scheint «echte» Künstliche Intelligenz noch sehr weit entfernt.

Angesichts von Anbietern wie OpenAI (ChatGPT) sollten wir vielleicht noch kurz über die sogenannten «Large Language Models» (grosse Sprachmodelle) reden. Diese Modelle sind sehr gut darin, eine Konversation mit Menschen zu führen und Fragen zu beantworten. Sie mögen daher sehr «intelligent» erscheinen, aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass diese Modelle – trotz aller technischen Feinheiten – noch nicht in der Lage sind, frei zu denken, wie ein Mensch das tun kann. Stattdessen sind solche Modelle darauf trainiert, möglichst wohlklingende Antworten zu geben. Im Gegensatz zum Menschen haben sie jedoch keine Vorstellung davon, was «wahr» oder «richtig» ist. Stattdessen geben sie nur das wieder, was in den Daten steckt. Ob richtig oder falsch, spielt dabei leider gar keine Rolle. Da sind wir Menschen hoffentlich anders.

Liebe Grüsse,

Bastian Grossenbacher-Rieck

Unsere Fachperson

Bastian Grossenbacher ist Professor für Maschinelles Lernen an der Universität Freiburg, wo er die Forschergruppe «AIDOS Artificial Intelligence for Discovering Obscured Shapes» leitet.

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Andere Perspektiven auf die Conquista, frischer Wind für das Geschichtsdepartement /alma-georges/articles/2025/andere-perspektiven-auf-die-conquista-frischer-wind-fuer-das-geschichtsdepartement /alma-georges/articles/2025/andere-perspektiven-auf-die-conquista-frischer-wind-fuer-das-geschichtsdepartement#respond Thu, 20 Mar 2025 09:53:50 +0000 /alma-georges?p=22076 Am 2. April hält Vitus Huber seine Antrittsvorlesung. Im Interview erklärt der neue Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit, warum er dort über die Conquista spricht, welche Parallelen man zu heute ziehen kann und welche Art Professor er sein will.

Sie haben für Ihre Antrittsvorlesung das Thema «Kollaboration, Kooperation und Konkurrenz im spanischen Kolonialreich» gewählt. Erklären Sie Ihre Wahl.
Die Conquista, die Eroberung und Kolonialisierung des heutigen Lateinamerikas durch die iberischen Kronen, hat eine erhebliche Relevanz für die heutige Welt. Die sogenannte Entdeckung von Amerika durch Christopher Kolumbus etwa markiert ein welthistorisches Ereignis: den Anfang der Globalisierung. Sie beeinflusst unsere Ernährungskultur und verschiedene Lebensbereiche bis heute. Und der Fokus auf Kollaboration, Kooperation und Konkurrenz zielt darauf ab, in diesem kolonialen Setting die verschiedenen Ebenen von Begegnungen und Austausch, Konfrontation und Unterdrückung aufzuzeigen. Die Geschichte der Conquista wurde lange als eurozentrische Erfolgsgeschichte erzählt; dass Spanier die Amerikas entdeckt, erobert, unterworfen und besiedelt haben. Heute ist klar, dass das eine viel zu dichotome Darstellung ist.

Inwiefern?
Mittlerweile werden verstärkt auch die indigenen Perspektiven berücksichtigt, wodurch die Geschichtserzählung ein differenzierteres Bild erhält. Denn die Indigenen spielten mithin als Verbündete spanischer Eroberungszüge eine zentrale Rolle. Es entstanden ständig Kooperationen und Kollaborationen. Als Kooperation bezeichne ich in diesem kolonialen Setting eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Kollaboration hingegen betitelt eine asymmetrische Partnerschaft.

Können Sie Beispiele nennen?
Beim von Hernán Cortés zu Beginn des 16. Jahrhunderts angeführten ikonischen Eroberungszug auf Tenochtitlan – den Ort, an dem heute Mexiko-Stadt liegt – schlossen die spanischen Eroberer verschiedene Allianzen. An der Küste wurden sie zuerst von den Totonaken empfangen. Diese waren den Mexica tributpflichtig, die im sogenannten Aztekenreich von den umliegenden Stadtstaaten Tribut verlangten. Die Spanier merkten deshalb schnell, dass Rivalitäten existierten und sie keineswegs auf ein einheitliches, homogenes Reich trafen. Die Totonaken kollaborierten mit den Spaniern. Die Motivation dahinter war die Hoffnung, sich vom Tributjoch zu befreien. Eine Kollaboration war es deshalb, weil es eine schwächere Gruppierung war, die versuchte, gegen die etablierte Macht Verbündete zu finden. Später trafen die Spanier auf die Tlaxcalteken, eine grössere indigene Gesellschaft, die sich gegen die Mexica wehren konnte und entsprechend nicht tributpflichtig war. Auch sie arbeiteten mit den Spaniern zusammen. In diesem Fall würde ich von Kooperation sprechen. Zu diesem Zeitpunkt waren die spanischen Eroberer rund 600 Mann stark. Allerdings wurden sie von Tausenden bis Zehntausenden Kriegern und Gefolgsleuten der Tlaxcalteken unterstützt. Von der ursprünglich erzählten heroischen Geschichte der kleinen Gruppe von Spaniern, die das riesige Aztekenreich bezwungen haben soll, bleibt deshalb nicht viel übrig. Auch im weiteren Verlauf trafen die Spanier immer wieder auf lokale Herrscher, die versuchten, ihre Macht auszubauen, indem sie die angreifende Kraft unterstützten.

Haben die spanischen Eroberer das geschickt eingefädelt oder bloss offene Türen eingerannt?
Das Bild von Cortés als genialem Anführer, der den lokalen Mikropatriotismus ausgenutzt habe, wurde rasch durch die berühmte Chronik von Bernal Díaz del Castillo revidiert. Dieser war ein einfacher Konquistador, der rund 40 Jahre danach in einer Chronik seine Beobachtungen festhielt. Es wurde klar, dass Cortés nicht immer über alles die Kontrolle hatte. Die heutige Forschung relativiert das Bild noch einmal zusätzlich, weil sie auch die Handlungsfähigkeit der indigenen Verbündeten benennt. Das ist mit Blick auf die Täter-Opfer-Zuschreibung ein heikles Thema, trotz Relativierung darf man nicht vergessen, dass der Ursprung der Aggression aus Europa kam. Tatsächlich aber war Mesoamerika schon vorher eine kriegerische Gegend, genau wie das Inkareich vor Francisco Pizarros Eroberungszug. Auch dort herrschte eine Bürgerkriegssituation vor, was es den Spaniern erleichterte, Allianzen zu knüpfen. Teilweise war es Zufall, dass sie auf solche Rivalen stiessen und sich mit ihnen verständigen und einen gemeinsamen Feind finden konnten. Es war kein kalkuliertes «Teile und herrsche», kein klarer Plan. Auch gab es immer wieder Verluste, gescheiterte Eroberungszüge, unübersichtliche Situationen. Es sei nur daran erinnert, dass Kolumbus eigentlich zu den Gewürzinseln wollte, einen Westweg nach Indien suchte – und aus Versehen auf den Doppelkontinent stiess, der der christlichen Welt unbekannt war.

Im Idealfall können aus der Geschichte Lehren für die Gegenwart gezogen werden. Was können wir mit Blick auf die Conquista mitnehmen?
Experte bin ich für Geschichte, aber ich beobachte Phänomene, die ähnlich sind. Nehmen wir beispielsweise die Beute, die ein zentrales Thema meiner Forschung zur Conquista ist. Ich behaupte, dass sie den Verlauf massgeblich beeinflusst hat. Die Leute, die bei den Eroberungszügen mitmachten, hatten keinen fix zugesagten Sold, sie lebten von der Beute, die aufgeilt wurde. Das trieb an, immer weiterzumachen und möglichst dort hinzugehen, wo es mehr zu holen gibt. Weil sie oft nicht so viel mobile Beute in Form von Gold, Silber und Edelsteinen machten, wie erhofft, suchten sie nach anderen Einnahmequellen, etwa indem sie Steuern erhoben oder den Boden gewinnbringend bewirtschafteten. Im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sehen wir derzeit ebenfalls eine Konzentration auf ressourcenreiche Gegenden. Der Osten und der Süden der Ukraine sind von den Böden her ressourcenreicher als der Rest des Landes. Die Russen haben dort auch Kornfelder abgeerntet und Korn weiterverkauft. Mit erbeuteten Ressourcen Einnahmen generieren und mit Einnahmen das kriegerische Unterfangen weiter vorantreiben; ich nenne das eine Beutespirale. Sie dreht sich immer weiter. Parallelen sind zudem auch auf Ebene Geschichtsschreibung und Legitimierung erkennbar.

Inwiefern?
Während der Conquista gab es in Spanien Kontroversen, ob es gerecht ist, die Bewohner_innen Amerikas zu unterwerfen. Entsprechend wurde ein rhetorischer Trick angewandt. Das sogenannte Requerimiento war ein Text, den man dem Gegner vorlas, bevor man ihn bekämpfte. Darin stand, dass es nur einen Gott gebe, den christlichen. Und dass dessen weltlicher Vertreter, der König, einen gesandt habe. Dass sich alle diesem Gott unterwerfen müssten, ansonsten habe man das Recht, sie zu bekriegen, weil sie Widerstand zur friedlichen Unterordnung zum Christentum leisteten. Dieses Umkehren der Rollen, wer der Aggressor ist, sehen wir in vielen Konflikten. Damit einher geht die Geschichtsschreibung. Cortés schrieb lange Briefe an den König, um seine Handlungen zu legitimieren. In Russland verfolgt Wladimir Putin heute ebenfalls eine demagogische Geschichtsschreibung. Es ist ein stark von den eigenen Interessen gefärbtes Narrativ, das die eigene Vorgehensweise legitimiert und die Fakten verdreht.

Sie forschen und lehren auch zu ganz anderen Themengebieten. Dazu gehört die Körpergeschichte. Wie kamen Sie dazu?
Mich interessieren insbesondere die historischen Formen der Selbstbeobachtung und Selbstverbesserung. Hierbei spielt der Körper eine zentrale Rolle. Die Frühe Neuzeit, die meinen Epochenschwerpunkt bildet, markiert die Zeit, in der die Praktik des Tagebuchschreibens aufkam. Die Verbreitung von Papier sorgte für eine günstigere Form von Schriftlichkeit. Mit der Reformation entstand gleichzeitig eine individuellere Beziehung zu Gott. Anders als im Katholizismus beichteten Protestant_innen ihre Sünden nicht regelmässig einem Beichtvater. Für das Verhältnis zu Gott waren sie vermehrt selbst verantwortlich. Es wurde propagiert, täglich zu beobachten und reflektieren, wie man den Tag verbracht, wo man gesündigt hat, was man besser machen kann – und am besten das alles am Abend im Tagebuch festzuhalten. Das brachte mich auf die Idee, mich mit der Frage nach der Veränderung des eigenen Ichs, des eigenen Körpers auseinanderzusetzen – beziehungsweise damit, inwiefern das schon in der Frühen Neuzeit ein Thema war.

Die Selbstoptimierung, die nicht nur in Lifestyle-Magazinen heute allgegenwärtig ist, ist also kein neues Phänomen?
Nur bedingt, allerdings unterscheiden sich die Umstände und Motivationen. In der Frühen Neuzeit waren Letztere oft verbunden mit religiösen, spirituellen Zielen. Ob Nahrungsreduktion, Schlafentzug oder Körperbeherrschung durch Unterdrückung von Wut etc. – all das war meistens mit spirituellen Intentionen verbunden. Gewisse Mechanismen sind dennoch vergleichbar mit der Gegenwart. Selbstoptimierung ist heute endlos, weil man nie weiss, wann das Optimum erreicht ist. Man kann immer noch besser werden. Im Christentum gab es insofern ein ähnliches Phänomen, als sich die Leute nie sicher sein konnten, ob sie fromm genug lebten. Sie durften auch nicht davon ausgehen, dass sie das taten, das hätte sonst als eitel gegolten – und wäre sicher nicht fromm gewesen. So mussten sich die Betroffenen permanent kleinhalten und selbst geisseln.

Sie sind seit rund einem halben Jahr ordentlicher Professor am Departement für Geschichte. Was für eine Art Professor versuchen Sie zu sein?
Ein hoffentlich innovativer. Ich versuche, die Studierenden für diese Epoche zu begeistern, plausibel zu machen, wie reichhaltig die Zeit war – und wie wichtig und relevant für heute. Ich nenne da gerne auch Beispiele aus dem Alltag: Tomaten kommen aus Amerika, die mediterrane Küche, die bei uns dominant ist, wäre ohne die sogenannte Entdeckung Amerikas undenkbar. Auch Rösti gäbe es nicht, weil wir die Kartoffel nicht kennen würden. Das sind Anekdoten, die Frühe Neuzeit ist jedoch tatsächlich eine Epoche, durch die wir viel lernen können, etwa über interkulturelle und interreligiöse Begegnungen, Staatsbildungsprozesse, Menschen-, Frauen- und Bürgerrechte, Konfliktmanagement etc. Für solche Themen versuche ich die Studierenden zu gewinnen und Ihnen zentrale Kompetenzen aus der Geschichtswissenschaft mitzugeben: Fundiertes Recherchieren, kritisches Analysieren sowie die Fähigkeit, einzuordnen und zu vermitteln. Ich versuche auch, das Fach Geschichte innerhalb der Universität Freiburg zu bewerben, dafür gehe ich gerne ungewohnte Wege und arbeite interdisziplinär. Bereits sind Kooperationen mit Kolleg_innen aus Literaturwissenschaften, Neurowissenschaften und Machine Learning angedacht.

Zur Person

Vitus Huber ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Departement für Geschichte der Universität Freiburg. Nach seinem Doktorat an der Ludwig-Maximilians-Universität München war er als Gastwissenschaftler und Dozent an verschiedenen Universitäten in der Schweiz und im Ausland tätig, unter anderem an den Universitäten von Harvard und Oxford. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Kolonialgeschichte, Körpergeschichte und die Geschichte der Nacht.

Zur Antrittsvorlesung

Die Antrittsvorlesung von Vitus Huber findet am Mittwoch, 2. April, um 18.15 Uhr am Standort Miséricorde 03 im Raum 3115 statt. Das Thema lautet «Kollaboration, Kooperation und Konkurrenz im spanischen Kolonialreich».

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Mit Familiengeschichten gegen das Narrativ vom heroischen Widerstand /alma-georges/articles/2025/mit-familiengeschichten-gegen-das-narrativ-vom-heroischen-widerstand /alma-georges/articles/2025/mit-familiengeschichten-gegen-das-narrativ-vom-heroischen-widerstand#respond Fri, 14 Feb 2025 16:18:31 +0000 /alma-georges?p=21995 Erinnerungskulturelle Familienromane sind ein gutes Medium, um gesellschaftliche und historische Themen zu vermitteln. Germanistin Emily Eder zeigt in ihrem Buch auf, welches Bild von der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in der zeitgenössischen Deutschschweizer Literatur gezeichnet wird.

«Es wird hinterfragt, infrage gestellt. Kann das wirklich so gewesen sein? Wie kann es sein, dass die offizielle Darstellung nicht mit dem übereinstimmt, was sie erlebt haben?» So beschreibt Emily Eder die Herangehensweise der drei Autoren Christoph Geiser, Thomas Hürlimann und Urs Widmer, deren Werke sie für ihre Dissertation analysiert hat. Sie setzte sich mit der Frage auseinander, wie in erinnerungskulturellen Familienromanen die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg dargestellt wird.

«In Deutschland und in Österreich ist das ein grosses Forschungsfeld. Viele Autor_innen haben über das geschrieben, was sie an Unterlagen bei ihren Eltern und Grosseltern auf dem Dachboden gefunden haben. Es gibt daher sehr oft einen autobiografischen Bezug. Das hat mich neugierig gemacht zu schauen, wie es in der Schweiz aussieht», erklärt die in Köln aufgewachsene Eder, wie sie auf die Idee für das Thema kam. Denn die Schweiz stellte im Kontext dieser Forschung einen blinden Fleck dar. «Also habe ich angefangen, viel zu lesen und dabei festgestellt, dass der Zweite Weltkrieg auch in der Deutschschweizer Literatur ein Thema ist. Es ist letztendlich nicht überraschend, denn weder die Schweiz noch ihre Literatur sind losgelöst vom europäischen Kontext.»

Besonders interessant sind Geiser, Hürlimann und Widmer vor dem Hintergrund, dass ihre Werke mehrheitlich in die Zeit fallen, in der das Narrativ vom heroischen Widerstand, das die offizielle Schweiz lange Zeit aufrechterhielt, zu bröckeln begann. Eine Zeit, in der die 1996 vom Bundesrat eingesetzte «Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg» genauer hinschaute.

Kritik in verschiedenen Formen
Welches Bild der Schweiz zeichnen Geiser, Hürlimann und Widmer? «Kein einheitliches. Aber alle hinterfragen auf ihre eigene Art, in ihrem spezifischen Kontext, das Narrativ vom heroischen Widerstand.». Urs Widmer etwa beschreibt im 2004 erschienenen Roman «Das Buch des Vaters» aus der Perspektive eines Kindes ­– es handelt sich dabei um ihn selbst als kleinen Jungen –, wie sein Vater eingezogen wurde und wie er die Réduit-Strategie wahrgenommen hat. «Es ist alles literarisiert und fiktionalisiert, entsprechend schwierig ist zu beurteilen, wie weit sich die geschilderte Szene wirklich so abgespielt hat», sagt Eder. «Aber die Kritik wird in einer besonders eindrucksvollen Passage deutlich, weil nicht klar wird, ob der erzählende Sohn die Gedanken des Vaters wiedergibt oder ob er selbst diese kommentiert. Beide Lesarten sind möglich. Er stellt sinngemäss die Fragen: Wie hätten die Soldaten im Réduit die Schweiz verteidigen können? Und was sollte dann mit allen anderen Personen in der Schweiz geschehen?»

Thomas Hürlimann, der selbst entfernt jüdische Vorfahren hat, zeigt seinerseits wiederholt auf, wie jüdisches Leben in der Schweiz aussah. Etwa im 2006 erschienen Roman «Vierzig Rosen». «Dort gibt es das Tagebuch der Mutterfigur, das zumindest an das Tagebuch von Anne Frank erinnert, wenn nicht daran angelehnt ist. Es wird dargestellt, dass jüdische Menschen von der Schweizer Bevölkerung teilweise feindlich behandelt wurden.»

Christoph Geiser wiederum setzt sich in erster Linie kritisch mit der bürgerlichen Schicht auseinander. «Wichtiger Bezugspunkt ist sein Grossvater Hans Frölicher, der während des Zweiten Weltkriegs Diplomat in Berlin war und von der offiziellen Schweiz später als Sündenbock dargestellt wurde, weil er die Schweiz aus eigenem Antrieb zu deutschlandfreundlich vertreten habe. Vereinfacht müsste man rückblickend sagen, ihn als Sündenbock zu instrumentalisieren ist sicher nicht richtig, ein vorbildlicher Diplomat war er jedoch auch nicht.» Geiser kannte seinen Grossvater, und auch die Dokumente, die er von seiner Mutter erhielt, zeichneten ein differenziertes Bild. «Das ist etwas, was alle drei Autoren machen: Sie stellen dem historischen Ganzen ein Privatleben gegenüber, geben Einblicke in Alltagssituationen. Sie ergänzen somit die historische Perspektive.»

Der Familienroman hat mehrere Stärken
Das ist für Emily Eder genau die Stärke des Familienromans, wenn es um die Vermittlung relevanter gesellschaftlicher und historischer Themen geht. «Wir alle stecken in einem familiären Beziehungsgeflecht. Entsprechend haben wir Anhaltspunkte, um an das anzuknüpfen, was uns literarisch vermittelt wird. Dadurch können wir diese Fragen womöglich innerhalb unserer eigenen Familie stellen – bei mir war das der Fall», sagt Eder. «In der Familie kann über verschiedene Generationen Erlebtes weitergegeben werden ­– oder eben gerade nicht. Es kann Tabus geben, fehlende Kommunikation, sodass wir erst nach dem Tod der Eltern oder Grosseltern merken, warum Beziehungen dysfunktional waren. Deshalb sind die Familienromane, gerade wenn sie einen autobiografischen Gehalt haben, sehr aufschlussreich.»

Die drei Autoren nehmen stellenweise die Perspektive ihrer Eltern ein, versuchen, sich in sie hineinzuversetzen, zeigen oft aber auch Generationenkonflikte auf. «Das ist das Potenzial von Literatur. Sie ist ein Medium, das uns erlaubt, etwas über andere Menschen zu lernen. Darüber, was es heisst, überhaupt Mensch zu sein, weil wir in die Gedanken von anderen Menschen schlüpfen können. Aber auch, um in der Zeit zurückzugehen und Einblicke in andere politische Systeme und historische Momente zu erhalten. Das können andere Medien zwar auch, aber über die Literatur verläuft die Auseinandersetzung viel langsamer und persönlicher.»

Der Einfluss von Literatur als Spiegel der Gesellschaft
Wie gross also ist der Einfluss von Literatur auf die Wahrnehmung eines bestimmten Themas in der Gesellschaft? Auf die Geschichtsschreibung oder Geschichtsumschreibung? «Das hängt immer auch davon ab, wie und von wem die Literatur rezipiert wird. Meiner Ansicht nach könnte der Einfluss grösser sein – aber das scheint eine der Herausforderungen der Geisteswissenschaften zu sein.» Emily Eder will ihren Teil dazu beitragen, den gesellschaftlichen Dialog durch Literatur und die Forschung darüber anzukurbeln. Auch deshalb hat sie die Möglichkeit genutzt, ihre Dissertation mit SNF-Geldern als Buch zu publizieren. Nicht ohne Stolz hat sie es vor kurzem in einer grossen Buchhandlung in Bern entdeckt. «Es wird kein Bestseller werden, die meisten Leute lesen vor dem Einschlafen keine Dissertationen», sagt Emily Eder mit einem Schmunzeln. «Aber vielleicht kann ich ein wenig Neugier wecken, womöglich liest jemand Bücher dieser Autoren plötzlich mit einer anderen Brille und macht sich zusätzliche Gedanken. Das wäre bereits ein Gewinn.»

Dr. Emily Eder hat Germanistik, französische Sprache und Literatur sowie Komparatistik an den Universitäten Freiburg und Köln studiert. Heute arbeitet sie als Studiengangskoordinatorin und pädagogische Beraterin in der Abteilung Medizin an der Universität Freiburg. Literatur nimmt in ihrem Leben immer noch einen wichtigen Platz ein, man trifft sie beispielsweise beim Literaturprogramm im Kino Korso.

Das 232-seitige Buch «Der Zweite Weltkrieg in der Deutschschweizer Literatur – Erinnerungskulturelle Familienromane von Christoph Geiser, Thomas Hürlimann und Urs Widmer» ist 2024 im Chronos Verlag erschienen.

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  • E-Book (pdf) kostenlos

 

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Er will die KI mit weniger Trash füttern /alma-georges/articles/2024/er-will-die-ki-mit-weniger-trash-fuettern /alma-georges/articles/2024/er-will-die-ki-mit-weniger-trash-fuettern#respond Thu, 19 Dec 2024 08:30:40 +0000 /alma-georges?p=21688 Learning More From Less; das ist das Ziel von Bastian Grossenbacher-Rieck. Der neue Professor für Machine Learning will künstliche Intelligenz effizienter machen – damit sie weniger Energie frisst und bessere Resultate liefert.

«Es ist vergleichbar mit der Zeit zu Beginn des Ölrauschs», sagt Bastian Grossenbacher-Rieck. Er ist Professor für Machine Learning am Departement für Informatik und denkt bei seinem pointierten Vergleich an den aktuellen Umgang mit Daten und künstlicher Intelligenz. «Ü²ú±ð°ùall hat es Daten und es wird einfach mal gemacht, was geht. Ständig werden noch mehr Daten darauf geschüttet und es wird geschaut, was für coole Dinge damit gemacht werden können. Das darf am Anfang so sein, aber irgendwann müssen wir einen Schritt weiterkommen.»

«Es gibt Limiten in der Natur»
Wie das Erdöl ist nämlich auch die Kapazität der Datenverarbeitung endlich. «Es gibt Limiten in der Natur, das kann nicht wegdiskutiert werden. Irgendwann lässt sich das Datacenter nicht mehr genügend kühlen», sagt Grossenbacher-Rieck und weist darauf hin, dass Microsoft bereits damit experimentiert hat, Datacenter im Meer zu versenken, um sie so zusätzlich zu kühlen.

Der Datenschwall bringt aber auch noch ein weiteres Problem mit sich: «Seit es ChatGPT gibt, hat es im Internet viel mehr Daten, die bereits von künstlicher Intelligenz erzeugt wurden. Es ist unklar, was ein Modell damit macht, wenn es wieder seine eigenen Daten zum Trainieren kriegt. Wird es dadurch schlechter? Driftet es in eine gewisse Richtung ab?» Wahrscheinlich reproduziert die KI die eigenen Fehler immer und immer wieder. Mehr Daten darauf zuschütten, hilft da nicht unbedingt.

ERC Starting Grant
Learning More From Less, lautet deshalb der Slogan, mit dem Bastian Grossenbacher-Rieck sein Projekt angepriesen hat, für das er einen prestigeträchtigen Starting Grant des European Research Council (ERC) erhalten hat. «Die Idee ist, effizientere, kleinere Modelle zu bauen, die mindestens so gut sind wie die grossen.» HOLES – Higher-Order Learning of Essential Structures with Geometry and Topology, heisst der Titel des Projekts, das im Januar anläuft und fünf Jahre dauert. «In der Geometrie geht es um die Details, um das Kleine, die Topologie ist für das grosse Ganze zuständig. Ich will die beiden Bereiche ins maschinelle Lernen bringen, sie vereinen, indem ich mir Zusammenhänge und ܲú±ð°ùschneidungen anschaue. So will ich neue Methoden im Machine Learning aufbauen.»

Das klingt alles kompliziert – und ist es auch. Konkret geht Bastian Grossenbacher-Rieck mit seinem Team in drei Schritten vor. Bevor sie ein Modell entwickeln, schauen sie sich die Daten selbst an, untersuchen etwa, ob sich Singularitäten finden lassen, Regionen in den Daten, in denen die ursprünglichen Annahmen nicht mehr zutreffen. «Ein anschauliches Beispiel ist da ein Modell, das mit handschriftlichen Notizen trainiert wird. Da kann eine 7 auch einmal aussehen wie eine 1, entsprechend weiss das Modell nicht, was es machen soll.» In einem zweiten Schritt geht es darum, dem Modell Stützräder zu verleihen, ihm zu sagen, was es in diesen Fällen machen muss. «Gleichzeitig kontrollieren wir, dass das Training in die richtige Richtung läuft.» In einem dritten Schritt wird dann das Modell neu gefüttert, mit neuen KI-Architekturen versehen, damit gewisse Merkmale in den Daten besser extrahiert werden können.

Ist schlanke KI überall möglich?
Am besten kennt sich Bastian Grossenbacher-Rieck in den Bereichen Netzwerkstrukturen und Graphen aus. Dort sei es definitiv sinnvoll, auf weniger Daten zu setzen. Auch wenn man mit Molekülen arbeite, sei das der Fall. Doch lässt sich die Idee der schlanken, aber smart gefütterten KI auf alle Bereiche übertragen? «Es gibt Sachen, die sicher sehr viele Daten benötigen. Ich denke da an die Bildverarbeitung. Aber ich bin überzeugt, dass es in sehr vielen Bereichen Platz für effizientere Modelle hat. Wir sind da als Community noch erst am Anfang.»

Früherkennung bei Autismus und Alzheimer?
Sein inneres Feuer für die Materie brennt lichterloh, die Begeisterung ist Bastian Grossenbacher-Rieck in jedem Satz anzuhören. Was treibt ihn an? Einerseits sei ihm genaues Verständnis wichtig. «Bei der KI wissen wir teils immer noch nicht genau, warum sie funktioniert – die theoretischen Grundlagen fehlen zu einem Grossteil.» Andererseits will er seinen Teil dazu beitragen, dass maschinelles Lernen in der Praxis zu sinnvollen Fortschritten führt. «Die Neurowissenschaften haben mich inspiriert», sagt Grossenbacher-Rieck, dessen Frau Ärztin ist. Es stünden viele Daten zur Verfügung, etwa wenn Magnetresonanztomographien (MRT) durchgeführt würden. «Mit Kollegen aus Yale sind wir derzeit dran, zu schauen, ob eine Früherkennung von Autismus-Spektrum-Störungen möglich ist.» Die gleiche Hoffnung gilt bei Alzheimer. «Dort ist die Datenlage sehr gut. Dank der MRT gibt es über einen Zeitraum von mehreren Jahren immer wieder Bilder, auf denen das Fortschreiten der Krankheit erkennbar ist. Noch ist alles sehr retrospektiv, wenn dereinst prospektiv diagnostiziert und der Krankheit entgegengewirkt werden könnte, wäre das ein Traum.»

Pingpong zwischen Mathematiker_in und Maschine
Traum ist auch das Wort, das Grossenbacher-Rieck verwendet, wenn er von einem Assistenzsystem für Mathematiker_innen spricht. «Ein KI-System und Mathematiker_innen, die zusammenarbeiten, um neues mathematisches Wissen zu schaffen, eine spezialisierte KI, mit der wissenschaftliches Pingpong gespielt werden kann – eine interessante Vorstellung.» Der Weg führt seiner Meinung nach auch da wieder über eine schlanke, effiziente KI. «Ein Schachcomputer muss auch keine Kochrezepte kennen», sagt Grossenbacher-Rieck.

Der Professor aus Heidelberg mag anschauliche Vergleiche – und hat ein Flair für Unterhaltung. Auf seiner Website führt er drei verschiedene Lebensläufe auf. In der Version «episch, aber höchst unprofessionell» schreibt er, schon als Kind habe der kleine Bastian die unheimliche Fähigkeit gehabt, überall Muster zu erkennen – selbst in der Kohlsuppe, einer Spezialität aus seiner Region. «Auch in Forschung und Lehre können ein wenig Humor und ab und zu ein Augenzwinkern nicht schaden», sagt er dazu.

Auf Youtube präsent
Möglichst viele Leute mitzunehmen, ist Bastian Grossenbacher-Rieck wichtig, es ist seiner Meinung nach sogar eine Verpflichtung der Universitäten der Allgemeinheit gegenüber. Auch deshalb ist der 38-Jährige unter anderem auf Youtube präsent. Das entsprechende Equipment kaufte er sich während der Pandemie, als er an der ETH Zürich unterrichtete. Momentan zeigt er seinen knapp 2300 Abonnent_innen relativ lange Fachvorträge. «Die Videos sind nicht professionell geschnitten und ziemlich roh. Wenn ich richtig in Freiburg angekommen bin, möchte ich gerne das nächste Level erreichen.» Er kann sich zum Beispiel fünf- bis zehnminütige Themen- und Erklärvideos vorstellen. «Schön wäre, wenn die Studierenden einen Teil dazu beitragen würden.»

Hub für Machine Learning
Grossenbacher-Rieck ist seit August als Professor an der Universität Freiburg tätig. «Es gefällt mir sehr gut, ich bin immer noch dabei, möglichst viele Leute zu treffen», sagt der junge Vater, der auch das AIDOS Lab (Artificial Intelligence for Discovering Obscured Shapes) leitet. «Ich bin sehr interessiert an Kollaboration, gerne fungieren meine Gruppe und ich als Hub für Machine Learning. Es ist mir wichtig, den Leuten aufzuzeigen, dass wir in Freiburg nun über mehr Kompetenzen in diesem Bereich verfügen und sich alle bei Fragen gerne an uns wenden können.»

Zur Person: Bastian Grossenbacher-Rieck machte an der Universität Heidelberg zunächst den Master in Mathematik und anschliessend denjenigen in Informatik, wo er zudem promovierte. Danach war er unter anderem als Senior Assistent an der ETH Zürich, als Junior Fellow an der Technischen Universität München sowie als Arbeitsgruppenleiter am Helmholtz-Zentrum München tätig. Seit August ist der 38-Jährige Professor für Machine Learning an der Universität Freiburg. Mehr zu seiner Forschung und seinen Interessen findet sich auf seiner Website.

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  • von Bastian Grossenbacher-Rieck

 

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Umweltpreis: Wie die Verbuschung im Wallis philosophische Fragen aufwirft /alma-georges/articles/2024/umweltpreis-wie-die-verbuschung-im-wallis-philosophische-fragen-aufwirft /alma-georges/articles/2024/umweltpreis-wie-die-verbuschung-im-wallis-philosophische-fragen-aufwirft#respond Thu, 12 Dec 2024 14:13:48 +0000 /alma-georges?p=21623 Wie sehr soll der Mensch in die Natur eingreifen? Sophie Buchers Antwort auf diese Frage entspricht nicht dem akademischen Mainstream. Sie hat sich die Verbuschung in ihrer Walliser Heimat unter dem Aspekt der Tugendethik angeschaut – und dafür den Umweltforschungspreis der Universität Freiburg gewonnen.

«The Virtue Ethics of Shrub Encroachment on Cultural Landscapes.ÌýExtensive Subalpine Grasslands in the Valais, Switzerland as a Case Study of Good Environmental Stewardship», lautet der Titel der Masterarbeit, für die Sophie Bucher von der Jury einstimmig mit dem Umweltforschungspreis 2024 ausgezeichnet worden ist. Im Interview erklärt die Walliserin, warum das Thema wichtig ist, weshalb nicht alle Leute ihrer Meinung sind, und wie sie die Rolle des Menschen im Ökosystem sieht.

Wie kamen Sie darauf, sich in Ihrer Masterarbeit mit dem Thema Verbuschung auseinanderzusetzen?
Ich wollte etwas mit einem Bezug zum Wallis machen. Während meines Studiums hatte ich oft das Gefühl, dass ich das Gelernte nicht recht in meinen Alltag einbauen kann und die Leute aus meinem Umfeld sich nicht viel darunter vorstellen können. Deshalb suchte ich ein sehr konkretes Thema. Während eines früheren Praktikums im Naturpark hatte ich bei Entbuschungsarbeiten mitgeholfen und wusste, dass das eine Thematik ist, die viele Leute im Wallis interessiert. Entsprechend spannend war es, mich mit ihnen auszutauschen.

Warum ist das Thema wichtig?
Es gibt zwei Hauptgründe: Erstens sind die Landschaften, zu denen ich geforscht habe, Biodiversitätshotspots. Zweitens gehören sie im Wallis wie anderswo zum kulturellen Erbe. Die Thematik erlebt gerade eine Wiederbelebung, die Leute fangen sich zunehmend an, dafür zu interessieren. Dadurch entstehen kontroverse Diskussionen um Fragen wie: Was wollen wir erhalten? Wie sehr sollen wir eingreifen? Wie sehr dürfen wir diese Landschaften nutzen?

In welche Richtung geht die Tendenz im Wallis?
Generell hat man damit zu kämpfen, dass immer weniger Personal zur Verfügung steht. Es kümmern sich zunehmend Freiwillige darum, aber das reicht bei weitem nicht aus, um die Flächen, die man eigentlich pflegen könnte, zu erhalten. Der Wille ist grundsätzlich da und es gibt Leute, die um Hilfe anfragen, weil die Verbuschung für sie direkte negative Auswirkungen hat. Vergleicht man aber die Situation mit dem Zustand von vor 40 Jahren, bräuchte es mehr Aufwand.

Damals wurde mehr Aufwand betrieben?
Es gab vor allem mehr Personen, die in der Landwirtschaft tätig waren, entsprechend wurden die Landschaften mehr genutzt. Heute spazieren wir durch die meisten dieser Flächen bloss, sie sind wichtig als Erholungsgebiet, haben aber keine Versorgungsfunktion mehr. Entsprechend schwieriger ist es, die Leute dafür zu motivieren, den Aufwand für die Pflege auf sich zu nehmen. Und doch ist ein Bewusstsein dafür vorhanden – und es wird immer grösser.

Was passiert, wenn der Mensch überhaupt nicht eingreift?
Die flachen Grasländer verschwinden, es gibt mehr Sträucher und es kommt zur Verbuschung. Das kann an gewissen Orten gut sein, etwa in steilen Hängen, wo es positiv ist, wenn wieder ein tieferes Wurzelwerk entsteht, das Erosion entgegenwirkt. Aber je nachdem, welche Pflanzen wachsen, können Monokulturen entstehen. Dominante Pflanzen verhindern so Biodiversität.

Sie behandeln die Thematik in Ihrer Arbeit auch auf einer philosophischen Ebene. Was war Ihre Herangehensweise?
Ich wählte einen interdisziplinären Ansatz, mit Fokus auf die Ethik. In unserem Masterstudium ist es so etwas wie der Klebstoff, der alles zusammenhält, die Themen immer auch unter dem ethischen Aspekt zu betrachten. Konkret habe ich mich dazu entschieden, etwas zur Tugendethik zu machen. Im Gegensatz zu den anderen grossen Teilgebieten der Ethik geht es da vor allem um die Kultivierung des eigenen moralischen Charakters. Das passt gut zum Thema, weil es in diesem Spannungsfeld zwischen Nutzung und Pflege angesiedelt ist. In der Tugendethik ist die Mässigung ein zentrales Thema, dass ein Kompromiss zwischen zwei Extremen gefunden wird. Auch Begriffe wie Identitätsstärkung und Kulturerbe sind von Bedeutung.

Stichwort Tugendethik: Was gehört zu den Aufgaben und Pflichten des Menschen im Zusammenhang mit der Verbuschung im Wallis?
Zu den wichtigsten Schlüssen, die ich in meiner Arbeit ziehe, gehört, dass es eben nicht darum geht, uns komplett zurückzuziehen und mit einem Laissez-faire-Ansatz die Natur sich selbst zu überlassen. Es ist sinnvoll und sogar notwendig, dass wir einen Einfluss auf diese Landschaften ausüben. Ich habe drei Tugenden herausgearbeitet, die dafür wichtig sind: Mässigung, das Wohlwollen anderen Lebewesen gegenüber sowie Loyalität, also Dankbarkeit dafür, was wir in diesen Landschaften bereits erleben durften, dass wir davon profitiert haben – und nun entsprechend diese Tradition weiterführen. Es ist eine Verpflichtung, diese Lebewesen, dieses Ökosystem zu unterstützen.

Ist das die gängige Sichtweise in der Ethik und im Umweltschutz?
Nicht unbedingt, sie geht ein wenig gegen den Mainstream. Es gibt Leute, die sehr stark den Laissez-faire-Ansatz befürworten. Je nach Blase, in der man sich bewegt, geht man davon aus, dass sich der Mensch generell zurückhalten und zurückziehen sollte. Der Tenor ist, dass es in Arroganz mündet, eine Hybris ist oder ganz einfach naiv, wenn wir jetzt noch mehr machen wollen, nach allem, was der Mensch bereits angerichtet hat.

Sie hingegen glauben an das Gute im Menschen?
Auf jeden Fall. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles, das vom Menschen kommt, direkt verteufeln. Es geht darum, den Wert des Eingreifens zu erkennen, zu sehen, dass es etwas bewirken kann. Für die meisten Leute ausserhalb des akademischen Rahmens ist das selbstverständlich. Folglich sind es im akademischen Kontext mitunter abgehobene Diskussionen – in denen ich gerne dagegenhalte.

Kann man sagen: Der Mensch ist Teil des Ökosystems, folglich wäre es nicht natürlich, wenn er sich komplett heraushielte?
Absolut. Es ist auch interessant, aus einer Erziehungsperspektive an das Thema heranzugehen. Wir sollten uns selbst erziehen und zur Verantwortung ziehen. Es geht nicht darum, dass wir eingreifen, wie es uns gerade beliebt; wir müssen uns ständig hinterfragen, kontinuierlich schauen, welche Auswirkungen unser Eingreifen hat, und daran wachsen – damit wir würdig sind, diese Verantwortung aktiv zu übernehmen. Das ist ein zutiefst humanistischer Ansatz, keineswegs auf Dominanz ausgerichtet. Wir sind nun einmal da und müssen irgendwas mit unseren Kräften machen, die diejenigen vieler anderer Spezies übersteigen.

Wenn Sie sich die Schweizer Umweltpolitik unter dem Aspekt der Tugendethik anschauen, wo müsste hauptsächlich der Hebel angesetzt werden?
Es würde sich lohnen, bei der Bildung nicht nur in Digitalisierung und die MINT-Fächer zu investieren, sondern vermehrt auch darin, die Natur zu erfahren. Es wäre wichtig, dass möglichst viele Leute erleben, was die Natur mit uns machen kann, dass wir vielleicht auch einmal der Natur ausgesetzt sind und uns zurechtfinden müssen. Ich habe persönlich sehr gute Erfahrungen gemacht mit Naturwochen, in denen Kinder im Sommer campen und ein längerfristiges Verständnis dafür entwickeln, was es bedeutet, wenn man die Natur lesen und sich darin zurechtfinden kann. Allein schon diese Verankerung würde sehr viel auslösen, wenn sie bei mehr Leuten vorhanden wäre als heute.

Was haben Sie gemacht, damit die Erkenntnisse aus Ihrer Arbeit möglichst breit gestreut werden?
Ich durfte sie in einem Seminar an der Uni Bern bei einem Kolloquium vorstellen. Das wurde von einem meiner Co-Betreuer organisiert, der dort als Biologie-Professor tätig ist. Zudem habe ich die Arbeit all meinen Gesprächspartnern weitergeleitet. Grundsätzlich gilt: Falls sich jemand melden will, um mit mir weiter darüber zu diskutieren, bin ich sehr offen dafür.

Zum Schluss noch etwas komplett anderes: Wie hoch war das Preisgeld und was machen Sie damit?
Es gab 3000 Franken. Was ich damit mache? Da ist Tugendethik wieder ein gutes Stichwort. (lacht) Ich könnte es einerseits sparen, andererseits fände ich es auch schön, mir etwas zu gönnen, um die Auszeichnung richtig zu feiern. Wer weiss, vielleicht läuft es auf eine längere Wanderung hinaus.

Zur Person: Sophie Bucher hat 2023 an der Universität Freiburg das Masterstudium in Environmental Sciences and Humanities abgeschlossen. Im September 2024 begann sie an der Berner Fachhochschule die Ausbildung zur Hebamme. Nebenbei ist die Walliserin in einem Teilzeitpensum im Nachhaltigkeitsteam der BLS tätig.

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Zwischen Medizinstudium und Olympia-Abenteuer /alma-georges/articles/2024/zwischen-medizinstudium-und-olympia-abenteuer /alma-georges/articles/2024/zwischen-medizinstudium-und-olympia-abenteuer#respond Wed, 07 Aug 2024 09:18:04 +0000 /alma-georges?p=20655 Sie studiert an der Universität Freiburg Medizin und ist gleichzeitig eine internationale Spitzenruderin: Aurelia-Maxima Janzen war bei den Olympischen Spielen in Paris die jüngste aller Teilnehmerinnen ihrer Kategorie und schaffte es auf Anhieb in die Top 10.

«Die olympische Regatta beinhaltete alles, was den Sport ausmacht – einfach um ein Vielfaches verstärkt», sagt Aurelia-Maxima Janzen. Was sie damit meint: «Es kann in jedem Moment alles passieren, du hast nicht die Sicherheiten und Gewissheiten, die du ausserhalb des Sports oft hast.» Durch die vielen Weltklasse-Athletinnen und die mediale Aufmerksamkeit sei das in Paris besonders ausgeprägt gewesen. «Es war eine sehr interessante Erfahrung, ich habe viel daraus gelernt.» Die Ruderin ging in der Kategorie Skiff an den Start. Im Einerboot also, in dem sie jeweils ganz allein für Erfolg und Misserfolg verantwortlich ist. War sie angesichts der vielen Zuschauer_innen im Stade nautique olympique de Vaires-sur-Marne am Start besonders nervös? «Am Start nicht, das wäre nicht gut. Aber grundsätzlich war es ein spezielles Gefühl, bei diesem riesigen Anlass mit dabei zu sein. Die Ansprüche an sich selbst sind bei allen Teilnehmenden noch einmal höher als bei anderen Wettkämpfen.» Schliesslich schaut die ganze Welt zu. Während Rudern normalerweise eine wenig mediatisierte Sportart ist, war Aurelia-Maxima Janzen in Paris plötzlich eine gefragte Interviewpartnerin.

Knapp am olympischen Diplom vorbei
Das hing auch mit ihren guten Leistungen zusammen. Die Bernerin setzte mehrere Ausrufezeichen, im Vorlauf und im Viertelfinal belegte sie jeweils den zweiten Rang und zog souverän in den Halbfinal ein. Dort verpasste sie als Fünfte zwar den A-Final, im abschliessenden B-Final wurde sie aber noch einmal starke Dritte. In der Endabrechnung belegte Janzen damit den neunten Schlussrang. Ein gutes Ergebnis – aber auch ein ärgerliches. Die ersten acht Athletinnen wurden mit einem olympischen Diplom ausgezeichnet, Janzen verpasste ein solches um 1,4 Sekunden. Auf die Zeit von 7:27.01 Minuten betrachtet, in der sie im B-Final die 2000 Meter zurücklegte, ist das wenig. Wie sehr nervt es sie, dass sie ein Diplom so knapp verpasst hat? «Ziemlich!», sagt Janzen sofort. «Aber letztlich bin ich schlicht nicht gut genug gefahren. Wir haben das analysiert und ich weiss, was ich in Zukunft besser machen muss. Das macht es leichter, das knappe Verpassen der Top 8 zu verdauen.»

Eröffnungsfeier verpasst
Am Verdauen ist Aurelia-Maxima Janzen, die zwei Tage nach ihrem letzten Einsatz am Montag zurück nach Bern gereist ist, auch die zahlreichen Eindrücke und Emotionen, die eine Olympia-Teilnahme mit sich bringt. Zwar war sie nicht an der pompösen Eröffnungsfeier, weil sie am Morgen danach ihren Vorlauf hatte, und sie übernachtete auch nicht im olympischen Dorf, weil die Ruderwettkämpfe weit ausserhalb des Stadtzentrums stattfanden. «Dennoch traf ich Athlet_innen aus der ganzen Welt und aus verschiedensten Sportarten. Das war eine angenehme Horizonterweiterung.» Gleichzeitig kamen ihr einige Aspekte des Megaevents fast schon surreal und absurd vor, etwa einige organisatorische Gegebenheiten. So wurde das gesamte Material, das auf das Wettkampfgelände gebracht wurde, im Stil einer Flughafen-Sicherheitskontrolle überprüft. Weil in ihnen Metallschrauben und -platten verbaut sind, schlug der Metalldetektor bei den Booten an – allerdings ohne Konsequenz. «Aber unter dem Strich konnte ich Sport treiben und gleichzeitig viel lernen. Diese Kombination ist fantastisch.»

Wie bringt sie Spitzensport und Studium unter einen Hut?
Aurelia-Maxima Janzen ist nicht nur internationale Spitzenruderin, sondern studiert auch an der Universität Freiburg im dritten Semester Medizin. Wie schafft sie es, diese zwei enorm zeitintensiven Bereiche unter einen Hut zu bringen? «Ein Vorteil ist, dass ich im Einer fahre und sozusagen mein eigenes Team bin. Das gibt mir viele Freiheiten, dadurch bin ich flexibel. So war es mir auch möglich, im Olympiajahr weiter zu studieren, während viele Athlet_innen im akademischen Jahr vor den Olympischen Spielen mit dem Studium aussetzen.» Während des Semesters trainiert Janzen in erster Linie auf dem Wohlensee. Wie viele Stunden sie pro Woche investiert, will die schweizerisch-deutsche Doppelbürgerin mit Wurzeln in Rostock nicht sagen. «Das gehört zu den Betriebsgeheimnissen.» Die Flexibilität der Universität Freiburg sei der andere Grund, warum sie Studium und Spitzensport miteinander vereinbaren könne. «Die Uni lässt mir viele Freiheiten, wann ich wie viel mache. Die Professor_innen sind ebenfalls verständnisvoll, wenn ich häufiger sportbedingt abwesend bin.» So geht Aurelia-Maxima Janzen ihr eigenes Tempo.

Die nächsten internationalen Wettkämpfe folgen
Bevor sie am 16. September für den Semesterauftakt zurück an der Uni Freiburg sein wird, drückt die 20-Jährige zuerst noch einmal mit ihrem Boot aufs Tempo. In eineinhalb Wochen startet sie im kanadischen Saint Catharines an der U23-WM, drei Wochen später an der U23-EM im türkischen Edirne. Welche mittel- und langfristigen Ziele verfolgt Aurelia-Maxima Janzen in ihrer Ruderkarriere? Allzu sehr will sie sich nicht auf die Äste hinauslassen. «Ich will besser werden. Anders gesagt: Wenn ich effizienter werde, kann ich richtig schnell sein. Im Rudersport ist man mit 20 recht jung, die Silbermedaillengewinnerin in Paris, Emma Twigg, ist beispielsweise 37-Jährig. Es bietet sich mir also ein gewisser Horizont.» Tatsächlich war Janzen in Paris die jüngste aller 32 Konkurrentinnen. Es spricht also wenig dagegen, dass sie noch viele weitere olympische Abenteuer miterleben wird. Und vielleicht klappt es 2028 in Los Angeles dann auch mit dem olympischen Diplom.

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Warum Unternehmen radikal umdenken müssen /alma-georges/articles/2024/warum-unternehmen-radikal-umdenken-mussen /alma-georges/articles/2024/warum-unternehmen-radikal-umdenken-mussen#respond Mon, 08 Apr 2024 17:40:56 +0000 /alma-georges?p=20055 Greenwashing ist ein Ärgernis. Wie aber lassen sich die Prinzipien der Nachhaltigkeit in Projekten und Unternehmen wirklich umsetzen? Mit dieser Frage setzt sich EPFL-Dozent und Unternehmer Sascha Nick intensiv auseinander – bald auch an einem Workshop an der Universität Freiburg.

Sascha Nick, Sie sind am 2. Mai Hauptdozent beim Workshop «How to transform sustainability principles into sustainable projects or companies?» Wie lautet Ihre Kernbotschaft?
Die Lösung für fast alle Nachhaltigkeitsprobleme liegt nicht in einer Technologie, Methode oder einem Produkt, sondern in einem besseren Denken – einer ganz anderen Denkweise. Das beginnt mit dem Verständnis, was Nachhaltigkeit im Rahmen eines Projekts oder Unternehmens bedeutet. Es erfordert nicht nur das Erkennen der unmittelbaren Auswirkungen, sondern auch der breiteren Auswirkungen auf die Umwelt, die Menschen und die Gesellschaft. Zum Beispiel werden durch die Umsetzung nachhaltiger Produktionspraktiken Energie, Materialien, Land und Arbeitskräfte genutzt – sie beeinflusst also auch die Gesellschaft im Allgemeinen. Darüber hinaus ist es wichtig, zu verstehen, wie Machtstrukturen und die Perspektiven der Menschen Entscheidungen beeinflussen. Eine Verschiebung von einem Fokus auf Profit und Konsum hin zum langfristigen Wohlbefinden (wellbeing) von Ökosystemen und Gemeinschaften wird beispielsweise zu einer anderen Organisation der Gesellschaft führen.

Was sind die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung?
Die wichtigsten Herausforderungen bei der Annahme nachhaltiger Praktiken resultieren aus der Notwendigkeit, gesellschaftliche Normen neu zu definieren, die oft mit festgefahrenen Gewohnheiten und ܲú±ð°ùzeugungen kollidieren. Zum Beispiel erfordert der ܲú±ð°ùgang zu erneuerbaren Energiequellen, die Nutzung fossiler Brennstoffe zu stoppen, die heute die Grundlage für gesellschaftliche Strukturen und wirtschaftliche Systeme sind – diese müssen sich ebenfalls ändern. Diese Barrieren zu überwinden, erfordert viel mehr als nur Technologie, zum Beispiel Veränderungen in Politik, Bildung und Kultur. Ebenso wichtig ist es, die heutigen Machtstrukturen und Interessen zu hinterfragen; so werden etwa Öl- und Bergbauindustrien den erforderlichen ܲú±ð°ùgang mit finanziellen Anreizen und politischer Einflussnahme bekämpfen.

Nachhaltigkeit ist ein oft verwendeter Begriff. Was bedeutet Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit Projekten und Unternehmen genau?
In Projekten und Unternehmen umfasst Nachhaltigkeit mehr als nur das Erfüllen heutiger Bedürfnisse – es erfordert auch die Berücksichtigung der langfristigen Auswirkungen gegenwärtiger Handlungen auf die Artenvielfalt und zukünftige Generationen. Zum Beispiel können bei einem Bauprojekt umweltfreundliche Materialien und nachhaltige Baupraktiken verwendet werden, um den CO2-Fussabdruck zu minimieren und Umweltverschmutzung zu reduzieren. Die Umsetzung von Nachhaltigkeitsmassnahmen in Unternehmen und Projekten kann jedoch aufgrund ihrer Verflechtung mit breiteren gesellschaftlichen Systemen herausfordernd sein. Zum Beispiel kann die Lieferkette eines Unternehmens Materialien aus Regionen mit laxen Umweltvorschriften beziehen, was es schwierig macht, Nachhaltigkeitsstandards während des gesamten Produktionsprozesses aufrechtzuerhalten.

Greenwashing ist in diesem Zusammenhang immer wieder ein Thema. Wie verbreitet ist es in der Geschäftswelt, dass Nachhaltigkeit in erster Linie ein Marketingbegriff ist – und wie sehr schadet das echten Nachhaltigkeitsbestrebungen?
Greenwashing, eine verbreitete Praxis in der Geschäftswelt, täuscht nicht nur Menschen, sondern untergräbt auch echte Nachhaltigkeitsaktionen. Um die Dinge komplizierter zu machen, ist Greenwashing oft keine direkte Lüge, sondern konzentriert sich auf unwichtige Details, um das grosse Ganze zu verbergen. Zum Beispiel versucht ein Unternehmen durch die Verwendung von Bio-Baumwolle für Autositze und die Kommunikation darüber die verbleibenden zwei Tonnen des Autos zu überdecken, die jedes Jahr Tausende Liter Öl verbrennen und Machtstrukturen basierend auf der Autoabhängigkeit (car dependency) und der Zersiedelung festigen.

Können Sie ein Beispiel nennen, in dem die Prinzipien der Nachhaltigkeit erfolgreich umgesetzt wurden?Erfolgreiche Nachhaltigkeitsbemühungen beinhalten oft innovative Ansätze, die sowohl der Umwelt als auch der Gesellschaft zugutekommen. Zum Beispiel kann ein Versorgungsunternehmen energieeffiziente Geräte bereitstellen, zeitabhängige Preise einführen oder direkt Unternehmen oder Gemeinden beraten. Das hilft seinen Kund_innen, den Stromverbrauch zu reduzieren und gleichzeitig die Widerstandsfähigkeit zu verbessern. Ein problematisches Beispiel wäre ein Lebensmittelunternehmen, das zwar Landwirt_innen in der Lieferkette hilft, den Pestizideinsatz zu reduzieren und sich während des Gebrauchs der Pestizide besser zu schützen – aber gleichzeitig süchtig machende zuckerhaltige Produkte herstellt und verkauft.

Sie betonen in Ihren Texten, dass ein positives Zukunftsnarrativ für uns als Gesellschaft wichtig ist. Wie könnte ein solches Narrativ aussehen?
Eine positive Zukunftserzählung stellt sich eine Welt vor, in der nachhaltige Praktiken zur dominanten Kultur werden, leicht umzusetzen und wünschenswert sind. Gemeinschaften und Gesellschaften, die sich auf öffentliche Dienstleistungen, Zugang zu Elektrizität, Gesundheitsversorgung und die Reduktion von Ungleichheiten konzentrieren, können ein hohes Wohlbefinden, Glück und Widerstandsfähigkeit erreichen, während sie erheblich weniger Ressourcen verbrauchen – und gleichzeitig alle grossen Probleme lösen: Klima, Biodiversität, Ungleichheit. Diese Zukunftserzählung betont die Verflechtung von menschlicher und planetarer Gesundheit. Sie inspiriert Hoffnung und befähigt zur Tat für eine bessere Zukunft.

Was erhoffen Sie sich von der Konferenz in Freiburg?
Die Konferenz zielt darauf ab, die Teilnehmenden dazu zu ermutigen, ein ganzheitlicheres Verständnis von Nachhaltigkeit zu entwickeln, das menschliche Bedürfnisse, ökologische Einschränkungen und systemisches Denken integriert. Darüber hinaus möchte die Konferenz die Teilnehmenden dazu inspirieren, Pionier_innen für positive Veränderungen innerhalb ihrer Organisationen und Gemeinschaften zu werden, indem sie die Bedeutung von Zusammenarbeit und gemeinschaftlichem Handeln betont. Die Teilnehmenden dürfen spannende Diskussionen, praktische Einblicke, Networking-Möglichkeiten und eine angenehme Erfahrung erwarten.

Zur Person

Dr. Sascha Nick ist Dozent am Laboratory of Environmental and Urban Economics an der EPFL in Lausanne und lehrt als Dozent auch an der Universität Lausanne sowie als Professor an der Business School Lausanne. Das Zusammenspiel zwischen Nachhaltigkeit, Wirtschaft und Gesellschaft gehört zu seinen Forschungsschwerpunkten. Er hat zudem mehrere Start-ups in den Bereichen Industriesoftware und Nachhaltigkeit gegründet.

Anmeldung zum Workshop

Der englischsprachige Workshop «How to transform sustainability principles into sustainable projects or companies?» findet am 2. Mai von 12.15 bis 14 Uhr im Adolphe Merkle Institut (Unifr PER 18) statt. Die Anmeldung ist kostenlos, aber obligatorisch.

Zusätzliche Informationen und Anmeldung hier.

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«In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden» /alma-georges/articles/2024/in-der-praxis-wird-zu-haufig-zulasten-der-umwelt-entschieden /alma-georges/articles/2024/in-der-praxis-wird-zu-haufig-zulasten-der-umwelt-entschieden#respond Tue, 09 Jan 2024 12:20:00 +0000 /alma-georges?p=19538 In ihrer Doktorarbeit hat sich Sian Affolter mit dem Verhältnis von Recht, Landwirtschaft und Umwelt auseinandergesetzt – und ist dafür mit dem Vigener-Preis ausgezeichnet worden. Im Interview erklärt sie, warum der Gesetzgeber vor grossen Herausforderungen steht.

«Der Umgang der Landwirtschaft mit der natürlichen Umwelt – de lege lata und de lege ferenda», lautet der Titel der Dissertation, für die Sian Affolter am Dies Academicus den Joseph Vigener-Preis überreicht bekam. Mit den Vigener-Preisen werden an der Universität Freiburg seit 1908 jedes Jahr herausragende Doktorarbeiten ausgezeichnet. Sian Affolter verfolgte in ihrer Arbeit zwei Ziele: Einerseits wollte die Juristin den Status Quo des schweizerischen Umweltagrarrechts abbilden, andererseits auch eine Grundlage für Diskussionen bieten, in welche Richtung sich dieses in Zukunft entwickeln könnte.

Wie kamen Sie auf die Idee für das Thema?
Ich bin im Luzerner Seetal aufgewachsen, das ist ein sehr ländliches Gebiet. Die überdüngten Mittellandseen sind dort seit meiner Kindheit ein Dauerthema. Entsprechend interessant und relevant finde ich das Verhältnis zwischen Recht, Landwirtschaft und Umwelt. Ausserdem bot sich das Thema an, weil es juristisch kaum abgedeckt wird – insbesondere die Schnittstelle zwischen Umweltrecht und Agrarrecht.

Eines der Ziele Ihrer Arbeit lautete, bestehende Defizite im Schweizer Recht aufzuzeigen. Was haben Sie herausgefunden?
Als Rechtswissenschaftlerin kann ich nur anschauen, wo die juristischen Probleme liegen, die Wirksamkeit bestimmter Instrumente zu bewerten ist nicht meine Aufgabe. Aber ich kann problematische Tendenzen erkennen und aufzeigen. Dazu habe ich das Verfassungsrecht, den hierarchisch obersten Rechtserlass, in Bezug auf den Umgang der Landwirtschaft mit der natürlichen Umwelt analysiert. Anschliessend habe ich mir eine Stufe darunter das Gesetzesrecht angeschaut und verglichen, ob der verfassungsrechtliche Auftrag und die gesetzliche Umsetzung miteinander übereinstimmen. Eine zentrale Feststellung meiner Dissertation ist: Die Verfassung verlangt vom Bund, dafür zu sorgen, dass die Landwirtschaft die ökologische Integrität wahrt. Das heisst, das System Umwelt darf nicht so weit beeinträchtigt werden, dass es sich nicht mehr selbst erholen kann. Ich denke, dass wir faktisch im Moment an einem Punkt angelangt sind, an dem das nicht mehr gewährleistet ist, weil die Landwirtschaft zu sehr in die Umwelt eingreift.

Wo liegt das Problem?
Nur bedingt im Bereich der Gesetzgebung, sondern in erster Linie beim Vollzug. Recht funktioniert so, dass es jeweils verschiedene Interessen abzuwägen gilt. Es gibt andere legitime Interessen, die in der Verfassung verankert sind. Ein klassisches Beispiel aus dem Bereich der Landwirtschaft ist die Versorgungssicherheit. Wenn es also um die Erstellung einer Schweinemastanlage geht, kann argumentiert werden, dass es der Versorgungssicherheit dient, wenn dort inländisch Schweinefleisch produziert wird. Gleichzeitig ist es für die Umwelt schädlich, die Ämter müssen bei ihrem Entscheid also abwägen. In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden – für diese Feststellung spricht jedenfalls die faktische Situation. Der Bundesrat sagt selbst, dass die verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen nicht immer gewahrt werden. Das spricht dafür, dass irgendwo ein Defizit besteht, die Waage oft auf die andere Seite kippt – Versorgungssicherheit ist ein attraktives Argument, das in der breiten Bevölkerung gut ankommt.

Müsste der Spielraum bei der Rechtsprechung eingeschränkt werden?
Zunächst gilt es festzuhalten: Es ist wichtig, bei der Gesetzgebung zuzulassen, dass im Einzelfall abgewogen wird. Es gibt keine Lösungen, die jedem Einzelfall gerecht werden. Aber was im Einzelfall womöglich zu einer zufriedenstellenden Lösung führt, ist in der Summe nicht zwangsläufig ebenfalls eine stimmige Lösung. Deshalb ist die Frage erlaubt, ob der Gesetzgeber die Abwägung manchmal nicht stärker anleiten sollte. Im Sinne des Umweltschutzes könnte er in gewissen Bereichen, zum Beispiel wenn es um Biodiversität geht, festlegen, dass dieses Interesse besonders stark zu gewichten ist.

Sie haben das Schweizer Recht auch mit dem EU-Recht verglichen. In welchen Bereichen könnte sich die Schweiz inspirieren lassen?
Die Rechtslage ist weitestgehend ähnlich. Ich konnte allerdings einige konkrete Unterschiede herausarbeiten, über die es sich nachzudenken lohnte. Einer davon ist der Lebensraumschutz. In diesem Bereich kennt die EU ein klares Verschlechterungsverbot. Festzuhalten, dass die Situation nicht schlechter werden darf, als sie aktuell ist, ist eine feine Anleitung für die Interessenabwägung im Vollzug – es werden Leitplanken gesetzt. Einen weiteren Unterschied gibt es bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, die in der EU zeitlich begrenzt ist, in der Schweiz nicht. Und dann wäre noch die Umweltverträglichkeitsprüfung. Darunter versteht man die Prüfung eines Projekts von gewisser Grösse, bei dem man davon ausgeht, dass es Auswirkungen auf die Umwelt haben könnte. In diesem formalisierten Verfahren werden vorgängig die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt eingehend geprüft, klassische Beispiele sind grosse Einkaufszentren oder Parkhäuser. In der Landwirtschaft hingegen ist in der Schweiz eine Umweltverträglichkeitsprüfung sehr selten. Die wird nur bei sehr grossen Ställen vorgenommen, das EU-Recht geht weiter, entsprechend fallen mehr Anlagen darunter.

In Ihrer Schlussfolgerung schreiben Sie, dass das Schweizer Umweltagrarrecht keine gravierenden Mängel aufweist, das grundlegende Problem, dass die landwirtschaftliche Produktion nicht mehr an die ökologischen Gegebenheiten angepasst ist, allerdings nach einer grundlegenden Reaktion schreit. Was stellen Sie sich darunter vor?
Es fehlt der gesamtheitliche, langfristige Ansatz. Den braucht es aber, um die ökologische Integrität zu bewahren. Es wäre wünschenswert, dass die gesetzgebenden Instanzen nicht bloss an verschiedenen Rädchen drehen, sondern von Zeit zu Zeit einen Schritt zurück machen, sich der rechtlichen Grundlagen besinnen und sich fragen: Was verlangt eigentlich die Verfassung von uns? Erfüllen wir das? Es wird hier ein Grenzwert für Pestizide angepasst, da festgelegt, wer wann düngen darf – aber es wird nicht die Frage gestellt, ob die Landwirtschaft vielleicht grundsätzlich überdacht werden sollte. Mir ist klar, dass das politisch schwer umsetzbar ist, aber es ist ein Privileg der Forschung, auch einmal den Idealzustand aufzeigen zu dürfen.

Wie sähe dieser Idealzustand denn aus?
Im Moment wird stark auf die einzelnen Probleme fokussiert und dann mit einem spezifischen Instrument darauf reagiert. Es wird zum Beispiel vor allem geschaut, wie die Landwirtschaft produziert, aber nicht, was. Zwar kann es nicht die Idee sein, den Leuten vorzuschreiben, was sie produzieren sollen, das würde auch rechtlich zu weit gehen. Statt mit Geboten und Verboten könnten wir jedoch durch eine indirekte Verhaltenssteuerung versuchen, Einfluss zu nehmen. Es wäre unter dem Aspekt des Umweltschutzes legitim, die Produktion gewisser Erzeugnisse mehr zu fördern und zu pushen als von anderen. Und es wäre interessant, sich die Frage zu stellen, wie indirekt der Konsum gesteuert werden könnte. Ändert sich die Nachfrage, ändert sich die Landwirtschaft. Ernährung hat einen Einfluss auf die Umwelt, und letztlich produziert die Landwirtschaft Nahrung, deshalb sollten wir in diesen ܲú±ð°ùlegungsstrang immer auch die Konsument_innen miteinbeziehen. Wir sollten uns die Frage stellen: Welche Lebensmittel wollen wir den Konsument_innen ans Herz legen? Ein klassisches Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung ist die Einführung von Labels. Es wäre beispielsweise ein Nachhaltigkeitslabel denkbar, das sich nicht nur auf die Herstellung, sondern auch auf das eigentliche Produkt bezieht. Das wäre gesamtheitliches Denken, da müssten wir manchmal mutiger sein.

Zum Schluss noch eine komplett unwissenschaftliche Frage: Der Vigener-Preis ist mit 2000 Franken dotiert, was machen Sie mit dem Geld?
Ich hatte das Geld im Hinterkopf, als ich mir kürzlich ein neues Zelt für die Veloferien gekauft habe. Sonst habe ich noch keine konkreten Pläne – aber auf jeden Fall habe ich jetzt wirklich ein tolles Zelt …

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«Grosse freiwillige Initiativen entlarven Mängel innerhalb des Systems» /alma-georges/articles/2023/grosse-freiwillige-initiativen-entlarven-mangel-innerhalb-des-systems /alma-georges/articles/2023/grosse-freiwillige-initiativen-entlarven-mangel-innerhalb-des-systems#respond Tue, 05 Dec 2023 15:07:02 +0000 /alma-georges?p=19409 An der Podiumsveranstaltung «Freiwilligkeit und Flucht: Arbeiten am Rand der Legalität» diskutierten eine Anwältin, ein Pfarrer und ein Schriftsteller über ihr Engagement für Geflüchtete – und darüber, was dieses über die Migrationspolitik aussagt.

«Es ist für mich alternativlos. In der Ägäis werden Menschen getötet, in Handschellen ins Meer geworfen, zu Tode geprügelt. Ich halte das nicht aus», sagte Annina Mullis gegen Ende der Veranstaltung, als sie gefragt wurde, wie sie mit dem Dilemma umgeht, dass Aktivist_innen ein Stück weit das Funktionieren des Systems mitermöglichen, indem sie die schlimmsten Exzesse abfedern.

Das interdisziplinäre Institut für Ethik und Menschenrechte der Universität Freiburg setzt sich intensiv mit dem Thema Freiwilligkeit auseinander – und zwar auch kritisch. Unter der Leitung von Regula Ludi und Matthias Ruoss läuft seit 2021 und noch bis 2025 das SNF-Projekt «Freiwilligkeit und Geschlecht: Neuverhandlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit den 1970er-Jahren.» Wurde Freiwilligkeit lange schlicht als Ressource betrachtet, will das Projekt einen neuen Blickwinkel eröffnen, die Spannungsfelder aufzeigen, die sich in der Praxis ergeben – und so zu einem breiteren Dialog über die Systemrelevanz des unentgeltlichen Engagements und dessen transformatives Potenzial anregen.

In diesem Rahmen organisierte das Projektteam am vergangenen Mittwoch an der Uni Freiburg die Podiumsveranstaltung «Freiwilligkeit und Flucht: Arbeiten am Rande der Legalität». Zu den Referent_innen gehörten nebst Anwältin Annina Mullis Pfarrer Daniel Winkler und Schriftsteller Dominik Riedo. Unter der Leitung von Sarah Probst, die als Doktorandin am SNF-Projekt mitarbeitet, suchten sie Antworten auf drängende Fragen.

Welches Licht wirft es auf die Migrationspolitik, dass so viel freiwilliges Engagement überhaupt notwendig ist?
«Grosse freiwillige Initiativen entlarven Mängel innerhalb des Systems, das Fehlen einer staatlichen beziehungsweise überstaatlichen Handlung. Zivile Seenotrettung zum Beispiel füllt eine Lücke, die von den Verantwortlichen offengelassen wird», sagte Annina Mullis, die am Legal Center Lesbos an der EU-Aussengrenze Geflüchtete unterstützt, etwa in Form von Rechtsberatung oder indem sie systematische Rechtsverletzungen wie Pushbacks dokumentiert.

Eine Lücke füllt auch Daniel Winkler. Als Leiter der Freiwilligengruppe Riggi-Asyl unterstützt der Pfarrer in der Berner Gemeinde Riggisberg Geflüchtete bei der Integration – und er hilft abgewiesenen Asylsuchenden mit erschwerten Rückkehrbedingungen. «Das sind vor allem Menschen aus Eritrea. Niemand geht freiwillig in diese Steinzeitdiktatur zurück, das wissen auch unsere Behörden. Trotzdem leben die abgewiesenen Langzeitfälle innerhalb des repressiven Schweizer Nothilferegimes unter menschenunwürdigen Bedingungen. Unser Ziel ist es, ihnen ein Dasein in Würde zu ermöglichen, damit sie über die Jahre nicht in den Rückkehrzentren verelenden.» Die Krux: Indem Riggi-Asyl nach privaten Unterbringungen sucht und für die Menschen die Bussen bezahlt, die sie wegen illegalen Aufenthalts erhalten, begeben sich die Freiwilligen selbst an den Rand der Legalität. «Es tangiert das Solidaritätsdelikt im Ausländer- und Integrationsgesetz. Jeder Franken, den wir für Abgewiesene ausgeben, ist streng genommen ein illegaler Akt», erklärte Winkler. «Dass diese Form der Solidarität in der Schweiz kriminalisiert wird, ist unverständlich.»

Solidarität prägt auch den Alltag von Dominik Riedo mit. Der Schriftsteller ist Präsident des Deutschschweizer PEN-Zentrums. PEN steht für Poets, Essayists, Novelists, die Organisation setzt sich weltweit für Meinungsfreiheit ein und unterstützt Menschen, die schreiben. «Als die Taliban in Afghanistan überfallartig an die Macht zurückkehrten, wurden wir mit Anfragen von Frauen überhäuft. Innert kürzester Zeit haben wir ein grosses Projekt gestartet, um möglichst vielen von ihnen in der Schweiz Schutz zu bieten. Dazu mussten wir immer wieder mit den zuständigen Bundesbehörden verhandeln – und viel Geld auftreiben, da wir zum Beispiel die Tickets teilweise selbst bezahlen mussten.»

Bei aller Kritik an den Lücken im System, gab Daniel Winkler aber auch zu bedenken, dass es nicht gut wäre, alles den staatlichen Strukturen zu überlassen. «Zivilgesellschaftliches Engagement ist für Geflüchtete ein Gamechanger, Beziehungsnetze sind matchentscheidend. Wer in die Gemeinschaft geholt und wahrgenommen wird, fühlt sich geachtet, wer allein gelassen wird, verkümmert.»

Darf freiwilliges Engagement als nettes Plus auf LinkedIn betrachtet werden?
Ökonomisierungstendenzen machen vor dem Bereich der Freiwilligkeit nicht Halt. Darf Flüchtlingshilfe auch als Investition in die Karriere gesehen werden, als netter Eintrag für den Lebenslauf auf LinkedIn? «Ich finde es nichts Verwerfliches, wenn jemand in jungen Jahren Zeit in ein entsprechendes Projekt steckt – und das auch im Hinblick auf eine spätere Jobchance tut. Solange das freiwillige Engagement nicht total berechnend ist, finde ich gewisse Hintergedanken okay», sagte Dominik Riedo. Annina Mullis sieht das ähnlich. «Aus dem Leben streichen kann ich die Erfahrung ja nicht, es ist Teil der Biografie, ob das nun im CV drinsteht oder nicht.» Menschen in Not zu helfen dürfe durchaus eigennützig sein, sagte Daniel Winkler – und dachte dabei an eine Art Kollektivvertrag. «Wir alle können in Situationen geraten, in denen wir Hilfe benötigen. Deshalb unterstützen wir Menschen, solange wir die Ressourcen dazu haben.»

Unerlässlich findet Annina Mullis Selbstreflexion. «Es ist wichtig, das eigene Bedürfnis, etwas Gutes zu tun, beiseitestellen zu können und sich zu überlegen: Was wird tatsächlich benötigt? Und bin ich die richtige Person, um das zu tun?» Als Beispiel erwähnte sie die Situation auf Lesbos in den Jahren 2016 und 2017. «Da gab es jede Woche eine neue Freiwilligeninitiative, zeitweise waren 500 NGOs vor Ort – und damit auch Personen, die keine Ahnung hatten, was sie eigentlich tun sollten.»

Wie umgehen mit dem Dilemma, das System, das man eigentlich bekämpfen möchte, womöglich aufrechtzuerhalten, indem man Kompromisse eingeht und seine schlimmsten Fehler ausbügelt?
Die eingangs erwähnte Alternativlosigkeit prägt den Umgang mit diesem Dilemma entscheidend. Annina Mullis plädiert dennoch dafür, sich selbst und die Wirkung des eigenen Handelns ständig zu hinterfragen. «Um etwas zu erreichen, müssen wir mitunter Kompromisse eingehen. Die Frage ist immer: Wie weit sollen wir bei diesen Kompromissen gehen?» Sie hätten vor der Veranstaltung zusammen diskutiert, warum sie eigentlich nicht in die Politik gegangen seien, ergänzte Dominik Riedo. «Schliesslich hätten wir dort die Möglichkeit, etwas zu verändern. Allerdings werden in der Schweizer Politik so viele Kompromisse eingegangen, dass sich innerhalb eines Lebens nur wenig bewegt. Deshalb bevorzuge ich die direkte Hilfe, da sehe ich jeden Tag konkrete Ergebnisse. Daraus ziehe ich meine Kraft.»

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Muslim_in sein in Zeiten der Superdiversität /alma-georges/articles/2023/muslim_in-sein-in-zeiten-von-superdiversitat /alma-georges/articles/2023/muslim_in-sein-in-zeiten-von-superdiversitat#respond Thu, 04 May 2023 13:34:15 +0000 /alma-georges?p=18149 Wie finden sich Muslim_innen in einer pluralistischen Gesellschaft zurecht? Das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg geht mit dem Projekt «Diversität und Orientierung» dieser Frage nach – und arbeitet Antworten heraus, die in den Bereichen Bildung und Seelsorge in der Praxis helfen können.

«Islam wird in der Regel nicht mit Diversität in Verbindung gebracht. Islamische Praktiken und Glaubensinhalte werden oft als unvereinbar mit gesellschaftlicher Pluralität dargestellt», sagt Dominik Müller. Er ist Teil eines jungen Projekts des SZIG, das genau das ändern will. Ein sechsköpfiges Team versucht unter dem Begriff «Diversität und Orientierung» aus einer sozialwissenschaftlichen, aber auch islamisch-theologischen Reflexion heraus Ressourcen für den Umgang mit Vielfalt in der Gegenwart herauszuarbeiten. Einerseits werden in dem Projekt konkrete Umgänge mit Diversität empirisch erforscht und andererseits Ressourcen aus muslimischen Traditionen systematisch erschlossen.

ܲú±ð°ùlappung von Identitäten
Es stellt sich als Erstes die Frage: Warum braucht es dieses Forschungsprojekt? Warum wird der Islam selten mit Diversität in Verbindung gebracht? «Religionen haben im Kern immer einen exklusiven Wahrheitsanspruch», sagt Professor Amir Dziri, der das Projekt leitet. «In der Praxis sind die Leute aber jeweils nicht nur Teil einer Religion, sondern auch einer Kultur, einer Sprachgemeinschaft, einer Ethnie usw. Diese ܲú±ð°ùlappung von Identitäten schafft einen Ausgleich zu dem exklusiven Wahrheitsanspruch.» Das gilt erst recht für säkulare Gemeinschaften wie der schweizerischen. «Wir leben in Zeiten von Superdiversität. Es ist deshalb interessant zu untersuchen, wie sich die Menschen in diesem Umfeld als Muslime definieren», sagt Sébastien Dupuis, der sich innerhalb des zweisprachigen Projekts mit der Romandie auseinandersetzt.

Projektleiter Prof. Amir Dziri / ©stemutz.ch

Kompromisse gehören zum islamischen Alltag
Nebst innermuslimischer Diversität steht deshalb das Aushandeln von Islamizität im Kontext des pluralen schweizerischen Gesellschaftsrahmens im Fokus. Dominik Müller nennt ein Beispiel, auf das er in seiner Dissertation gestossen war. Ein junger muslimischer Mann hatte ein Jobangebot von einer Zürcher Bar, in der natürlich auch Alkohol ausgeschenkt wurde – und stellte sich die Frage, ob er diesen Job annehmen dürfe. Er wandte sich mit der Frage an einen Theologen, der sich daraufhin eines islamrechtlichen Instrumentes bediente, um dem jungen Mann eine Rechtsauskunft zu erteilen. Der Gelehrte erklärte dem Mann, er dürfe angesichts seiner prekären finanziellen Situation den Job annehmen, weil es wichtig für die Familie sei, dass er seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. «Das Beispiel zeigt, dass durchaus Ambiguitätstoleranz vorhanden ist. Diversität war immer schon Gegenstand muslimischen Alltagslebens und islamischer Gelehrtentradition.»

Engagiert und partizipativ
Bei dem Projekt, das von der Stiftung Mercator Schweiz gefördert wird, geht es deshalb nicht bloss darum, den Ist-Zustand zu beschreiben. Sich den grossen Fragen anzunähern wie: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Ist Religion eine Ressource, um sich zurechtzufinden? Oder ein Hindernis? Schafft sie Integration? Oder Abgrenzung? Es geht auch darum, den Menschen, die in den Bereichen Bildung und Seelsorge arbeiten, Wissen und damit wichtige Werkzeuge für den Alltag zur Verfügung zu stellen. «Wir betreiben eine engagierte, partizipative Forschung. Wir gehen auch raus und sprechen mit Leuten, die einen normalen nicht-akademischen Alltag leben», sagt Amir Dziri. «Am Ende ist es ein intensiver Austausch, bei dem wir eine akademische Expertise anbieten, die im Alltag selbst Orientierung schafft. So übernehmen wir gesellschaftliche Verantwortung, indem wir die Diskussion mit abgesicherten Befunden von Leuten begleiten, die sich systematisch mit den jeweiligen Fragen auseinandergesetzt haben.»

Geschlechtliche und sexuelle Diversität ebenfalls Thema
Der Begriff Diversität ist derzeit in westlichen Gesellschaften oft in erster Linie mit sexueller- und geschlechtlicher Diversität konnotiert. Im Projekt des SZIG steht das Thema zwar nicht im Vordergrund, ist aber durchaus präsent. «Das Geschlecht ist eine wichtige Ressource im Orientierungsprozess. Gender und Transidentität sind Teil der Erfahrungen, die junge Muslime machen, und es ist deshalb wichtig zu verstehen, wie islamisch-theologische ܲú±ð°ùlegungen mit diesen Herausforderungen umgehen, ohne dass wir davon ausgehen, dass sie unvereinbar sind», erklärt Sébastien Dupuis.

«Die jungen Menschen müssen sich gegen viele Einflüsse wehren. Natürlich gibt es islamische Auslegungen, die restriktiv sind, bestimmte Idealliteratur, die von Ausschlüssen ausgeht, wenn es um die sexuelle Orientierung und das Muslimischsein geht», sagt Amir Dziri. Ìý«Diversität und Hybridität sind Realitäten Jahrhunderte alter muslimischer Kulturgeschichte, und das ist auch heute nicht anders. Das gehört zu den wichtigen Grundannahmen innerhalb des Projekts.»

Ohne Scheuklappen
Es ist eine Herangehensweise ohne Scheuklappen. «Wir leben in Zeiten von Informationsüberfluss. Das gilt auch in Bezug auf islamische Orientierungsangebote. Im Internet gibt es sehr viele verschiedene Meinungen, dazu gehören auch autoritative Stimmen», sagt Dominik Müller. «Die vielen verschiedenen Blickwinkel können zu ܲú±ð°ùforderung führen. Diese Komplexität, sowie der mediale und politische Druck, der auf muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz lastet, der auch mit Stigmatisierung und Vorverurteilung einhergeht, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gemeinschaft auf den Status quo zurückgreift.»

Dem will das Projekt, das noch bis 2026 läuft, entgegenwirken. Was möchten die Forschenden dannzumal rückblickend sagen können? «Dass wir mitgeholfen haben, die Diskussion weg von einer defizitzentrierten hin zu einer ressourcenorientierten Betrachtung zu führen», sagt Müller. Und Dupuis ergänzt: «Dass wir es geschafft haben, die Komplexität der Frage in den Vordergrund zu rücken.» Letztlich versucht das Projekt aufzuzeigen, was der Islam eben auch ist: divers!

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  • Das Projekt
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  • ܲú±ð°ù Dominik Müller
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