Julian Steiner – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Tue, 27 Jun 2023 13:02:20 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Die Naturforschende Gesellschaft Freiburg /alma-georges/articles/2023/die-naturforschende-gesellschaft-freiburg /alma-georges/articles/2023/die-naturforschende-gesellschaft-freiburg#respond Tue, 27 Jun 2023 13:02:20 +0000 /alma-georges?p=18525 Seit 1832 verfolgt die Naturforschende Gesellschaft Freiburg (FNG) das Ziel, sowohl Fachleute wie auch die Öffentlichkeit über aktuelle naturwissenschaftliche Themen zu informieren. Sie ist damit älter als die Universität Freiburg, aber seit der Gründung der Uni eng mit ihr verbunden. Co-Präsident Hansruedi Völkle, Titularprofessor im Ruhestand, stellt die Gesellschaft ausführlich vor und erklärt, welche Themen besonders aktuell sind und auch, was der Gesellschaft Sorgen bereitet.

Welchen Zweck verfolgt die FNG?
Die Naturforschende Gesellschaft Freiburg FNG (Société Fribourgeoise des Sciences naturelles SFSN), will in verständlicher Form über naturwissenschaftliche Themen informieren und das Interesse daran wecken. In unserem Fokus stehen dabei nicht nur die Universitätsgemeinschaft, sondern auch die Freiburger Bevölkerung und ganz besonders junge Menschen in Ausbildung. Jedes Jahr organisiert sie eine Reihe von öffentlichen Vorträgen zu aktuellen Fragen, sowie eine Exkursion, in diesem Jahr zum Thema «Spinnen». Leider mussten wir coronabedingt ab 2020 bis zum laufenden Jahr die Aktivitäten unserer Gesellschaft reduzieren oder ganz einstellen.

Unser Angebot ist interdisziplinär: Wir möchten Naturwissenschaftler_innen anregen, sich auch für Bereiche ausserhalb ihres eigenen Forschungsgebietes zu interessieren und Maturand_innen motivieren, Naturwissenschaften an unserer Universität zu studieren. Seit 1879 veröffentlicht die FNG ein Bulletin, das ausser den Vereinsnachrichten auch Artikel zu naturwissenschaftlichen Themen in einer für Laien verständlichen Sprache enthält.

Jedes Jahr prämiert die FNG ausserdem die besten Maturaarbeiten an den Freiburger Gymnasien St-Michel, Ste-Croix, Gambach, Collège du Sud und des Gymnase intercantonal de la Broye in Payerne.

Mit welchen Themen setzt sich die FNG aktuell auseinander?
In der diesjährigen Vortragsreihe geht es um sehr aktuelle Themen: Wie entwickelt sich die Biodiversität im urbanen Umfeld? Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf die Freiburger Wälder und wie geht der Kanton damit um? Wie engagieren sich die Freiburger «Grand-Parents pour le Climat»? Thema unseres letzten Vortrages war gerade für Stadtbewohner_innen von Interesse: Was können Behörden und Bauplaner tun, um Hitze-Spots in unseren Städten in den Sommermonaten zu vermeiden?

Wie hat sich die FNG historisch entwickelt?
Die FNG wurde lange vor unserer Universität gegründet, und zwar in einer Zeit, als der Kanton Freiburg – nach der kurzen Phase der Helvetischen Republik – mit der so genannten Restauration zum Ancien Régime durch das Patriziat zurückkehrte. Eine Zeit also, in der eher sozio-politische als naturwissenschaftlichen Themen im Vordergrund standen. Es mag erstaunen, dass sich damals geistliche Herren, wie der Pädagoge Pater Grégoire Girard und der Chorherr Charles-Aloyse Fontaine für Naturwissenschaften interessierten. Fontaine hatte eine beachtliche Sammlung von Mineralien und Pflanzen zusammengetragen, die später die Basis für das Freiburger Naturhistorische Museum bildete. Beide der Genannten spielten sowohl im Jahr 1815 bei der Gründung der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (ScNat) als auch 1832 bei jener der FNG eine wichtige Rolle. Allerdings gab es dann in der Geschichte unserer Gesellschaft ein «schwarzes Loch», eine Zeit, über die uns keine Dokumente vorliegen: Bereits nach dem zweiten Präsidenten, Antoine-Casimir Déglise, fiel die FNG in einen «Winterschlaf», aus dem sie erst mit der zweiten Gründung von 1871 wieder erweckt wurde. Zusammen mit gegen 30 weiteren regionalen und kantonalen naturforschenden Gesellschaften ist die FNG in die Plattform Naturwissenschaften und Region der ScNat integriert und erhält von dieser auch einen finanziellen Zustupf. Heute hat die FNG rund 300 Mitglieder, hauptsächlich aus dem Kanton Freiburg.

Wie ist die FNG mit der Universität Freiburg verbunden?
Die NFG ist eng mit der Naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultät der Universität Freiburg verbunden. Viele der Mitglieder sind aktuelle oder pensionierte der Fakultät. Auch die meisten Präsident_innen kamen und kommen aus der Fakultät. Schliesslich finden auch die Vorträge an der Fakultät statt, nämlich im Hörsaal der Pflanzenbiologie an der Albert-Gockel-Strasse im Pérolles-Quartier.

Die FNG veröffentlicht regelmässig ein Bulletin. Was hat es damit auf sich?
Das Bulletin unserer Gesellschaft erscheint einmal pro Jahr, enthält verbandsrelevante Dokumente, vor allem aber wissenschaftliche Artikel vorzugsweise zu naturwissenschaftlichen Themen, vor allem mit Bezug zum Kanton Freiburg. Diese werden meist von Mitgliedern der FNG oder  der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät der Universität verfasst. Aber auch Forschungsarbeiten, Master- und Matura-Arbeiten sind sehr willkommen. Alle bisherigen Bulletins ab Nummer 1 von 1879/80 sind in elektronischer Form auf der Plattform zugänglich, zusammen mit einer grossen Anzahl weiterer Schweizer Veröffentlichungen. Diese Plattform verfügt über eine effiziente Suchmaschine, was Nachforschungen nach bestimmten Themen und Personen ermöglicht.

Wer darf bei der FNG Mitglied werden?
Als Mitglieder der FNG sind sowohl Fachleute auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der Mathematik als auch alle interessierten Laien willkommen. Der Mitgliederbeitrag liegt bei CHF 45.- pro Jahr, für junge Menschen in Ausbildung bei CHF 20.- pro Jahr.
Die Mitglieder erhalten das Bulletin und werden zu den Vorträgen, Exkursionen und weiteren Aktivitäten eingeladen. Der doch recht bescheidene Mitgliederbeitrag ermöglicht es der FNG, weiterhin Vorträge und Exkursionen anzubieten, Maturaarbeiten zu prämieren und die Bevölkerung über aktuelle naturwissenschaftliche Themen zu informieren.

Welche Themen beschäftigen die FNG aktuell am stärksten?
Unsere Hauptaufgabe sehen wird darin, das Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen zu wecken, um den inter- und transdisziplinären Dialog über die Herausforderungen unserer Zeit zu stimulieren. Im Fokus stehen Schulen und Gymnasien und ganz besonders die Studierenden der Hochschulen und der Universität als Entscheidungsträger von morgen. Denn viele der grossen Probleme, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen, können nur in inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit gemeistert werden. Dazu gehört der Klimawandel, wie wir uns an eine veränderte Umwelt anpassen, die Energiekrise, die Verknappung der Rohstoffressourcen, der Schwund der Biodiversität, die Sorge um unsere mit Schadstoffen belastete Umwelt, aber auch aktuelle Themen der naturwissenschaftlichen Forschung. Die FNG sieht ihre Rolle als Mittlerin zwischen der Forschungsgemeinschaft unserer Universität und der Freiburger Bevölkerung.

Sorge bereitet uns die ܲú±ð°ùalterung der FNG, eine Erscheinung, die leider viele naturforschende Gesellschaften der Schweiz betrifft. Wir suchen immer noch nach dem besten Rezept, um junge Mensch für die FNG zu interessieren und auch um junge Forschende der Universität für die aktive Mitarbeit zu gewinnen, etwa für Vorträge, für Exkursionen, für interessante Artikel in unserem Bulletin und weitere Aktivitäten im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften und Gesellschaft.

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Genussvolle Nacht der Museen 2023 /alma-georges/articles/2023/genussvolle-nacht-der-museen-2023 /alma-georges/articles/2023/genussvolle-nacht-der-museen-2023#respond Sat, 20 May 2023 15:49:38 +0000 /alma-georges?p=18246 Am 13. Mai fand die 13. Ausgabe der Nacht der Museen Freiburg statt. Der Botanische Garten der UniFr präsentierte dieses Jahr ein gemeinsames Programm mit dem Naturhistorischen Museum Freiburg, und lockte an die 1500 wetterfeste Besucher_innen an.

Wie jedes Jahr konnten Kunst- und Kulturinteressierte an der «Nuit des Musées» mit nur einem Ticket die Freiburger Museen besuchen und ein breites Angebot an Attraktionen und Aktivitäten erleben. Im Rahmen des Jahres als «Genussstadt» lag der Schwerpunkt wenig überraschend auf der Freude am Essen und Trinken. Vom Gärprozess beim Bierbrauen zur Ernährung von Profi-Radsportler_innen bis hin zum Menu des Letzten Abendmahls wurden die Besucher_innen bestens auf das Genussjahr 2023 eingestimmt.

Der Botanische Garten der UniFr spannte dieses Jahr mit dem Naturhistorischen Museum (NHMF) zusammen. Gross und Klein erfuhren Wissenswertes rund um Gewürze und Nüsse oder übten sich darin, mit einem Rüssel zu essen.
Im Weiteren bot  das Departement für Chemie in den Räumlichkeiten des NHMF eine Geschmacksshow und das BIBEL+ORIENT Museum versorgte seine Gäste mit Speisen aus dem Orient.

Die 18 teilnehmenden Institutionen zählten bei 2000 verkauften Tickets rund 9000 individuelle Museumseintritte.

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Free-speech – Das Wort hat Ivo Wallimann-Helmer /alma-georges/articles/2023/free-speech-das-wort-hat-ivo-wallimann-helmer /alma-georges/articles/2023/free-speech-das-wort-hat-ivo-wallimann-helmer#respond Thu, 13 Apr 2023 09:00:05 +0000 /alma-georges?p=17997 Prof. Dr. Ivo Wallimann-Helmer ist als Philosoph und Ethiker gern gesehener Gast in öffentlichen Debatten, gerade weil er sich vornehmlich mit Herausforderungen rund um das Thema Umwelt befasst. Wie weit er geht, um seine persönlichen Ansichten in den allgemeinen Diskurs einzubringen, erklärt er im vierten Teil unserer Serie über die Redefreiheit von Wissenschaftler_innen.

Ganz generell: Ist es jede Wahrheit wert, ausgesprochen zu werden?
Das hängt vom Kontext ab. Aus strategischen Gründen ist es manchmal sinnvoller, freundlich zu bleiben statt jemandem direkt ins Gesicht vorzuwerfen, von der Materie nichts zu verstehen. Manchmal ist es aber essentiell, etwas unmissverständlich festzuhalten, wenn man seine Ziele erreichen will. Solche strategischen Gründe sind das eine, moralische Gründe sind das andere. Manchmal sollte man aus Respekt vor einer Person oder einer Sache lieber die Unwahrheit sagen, als auf den Tatsachen herumzureiten. Aus ebenfalls moralischen Gründen kann es aber auch gegenteilig sein. Man muss die Wahrheit sagen, um einer Missachtung wichtiger Werte entgegenzuwirken. Bei offensichtlicher Diskriminierung ist es essentiell, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Einer gleichberechtigten Gesprächspartnerin angemessenen Respekt zu zollen, bedingt manchmal, dass man nebensächliche Ungenauigkeiten ausblendet, manchmal aber auch genau das Gegenteil.

Was ist Ihr Fachgebiet? Worüber forschen Sie?
Ich bin als Philosoph und Ethiker ausgebildet, der sich mit angewandten Fragestellungen im Bereich von Umweltherausforderungen auseinandersetzt. Dabei bin ich auf demokratie- und gerechtigkeitstheoretische Fragestellungen spezialisiert. Meiner Meinung nach ist es von entscheidender Bedeutung, dass im Kontext von Umweltherausforderungen nicht nur die Frage unserer Pflicht zum Ergreifen von Umwelt- und Klimaschutzmassnahmen behandelt werden, sondern auch die faire Verteilung der Belastungen bei der Umsetzung entsprechender Massnahmen.

Einige Wissenschaftler, aktuell oft aus der Klimaforschung, veröffentlichen nicht nur ihre Ergebnisse, sondern versuchen auch, die Öffentlichkeit zu warnen und die Behörden zum Handeln zu bewegen. Sind Sie der Meinung, dass dies die Rolle der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist oder dass sie sich auf ihre Forschung beschränken und keine Stellung beziehen/sich nicht einmischen sollte?
Als Ethiker forsche ich zu normativen Fragen, deshalb haben meine Äusserungen in der Öffentlichkeit fast zwangsläufig eine Stellungnahme meinerseits zur Folge. Wenn es um klimaethische Fragen geht, habe ich zu sehr vielen Herausforderungen eine Position und Meinung. Deren Begründung darzustellen, aber gleichzeitig auch kritisch zu diskutieren, scheint mir wichtig. Damit lässt sich grösseres Bewusstsein für die Herausforderungen schaffen, vor denen wir stehen. Diese sind nicht nur naturwissenschaftlicher oder sozialwissenschaftlicher Natur, sondern betreffen auch unsere grundlegenden Wertvorstellungen und unsere Haltung gegenüber der Zukunft.

Da die Zeit zum Ergreifen effektiver Massnahmen drängt, verstehe ich sehr wohl, dass viele Forschende, insbesondere Klimaforschende, das Bedürfnis haben, Stellung zu beziehen und die Behörden zum Handeln bewegen wollen. Auch mir ist es ein Bedürfnis, die Politik in ihren Entscheidungen zu unterstützen und in die aus meiner Sicht bestmögliche Klimapolitik zu bewegen. Doch Wissenschaft und Politik sind nicht das gleiche und gehören klar getrennt. Deshalb sollten Forschende meines Erachtens immer klar machen, wann sie als Forschende ihre Forschungsergebnisse kritisch diskutieren und wann sie als besorgte, sehr gut informierte Bürger_innen politisch Stellung beziehen. Das ist nicht immer einfach und eine Gratwanderung. Für die Glaubwürdigkeit der Forschung aber unabdingbar.

Wie schätzen Sie den Einfluss Ihrer Forschung auf die wissenschaftliche Debatte und die öffentliche Politik ein?
Mit philosophischer Forschung einen klar messbaren Einfluss auf die Öffentlichkeit zu haben ist nicht ganz leicht. Denn viele der Argumente und Konzepte unserer Forschung finden sich auch in der öffentlichen politischen Debatte. Die Herausforderung ist deshalb immer, den Gewinn philosophischer Klärung und Argumentation zu vermitteln, ohne gleichzeitig allen ihre eigenen Ansichten zu erklären. Gleichzeitig hoffe ich natürlich, mit meinen öffentlichen Auftritten immer auch eine gewisse Klärung und Hilfestellung in die politische Debatte zu tragen. Wie gross der Einfluss meiner Auftritte in den Medien genau ist, weiss ich nicht. Ich erhalte aber immer wieder Rückmeldungen, dass man mich gehört oder gesehen hätte und es spannend war. Am einflussreichsten war hier sicherlich mein Auftritt in «» letzten Herbst.

Meine Forschung ist in vielem interdisziplinär angelegt. Damit hoffe ich, disziplinenübergreifend Einfluss auf die Klimaforschung und -politik allgemein ausüben zu können. In den neuesten IPCC-Berichten (Intergovernmental Panel on Climate Change) spielen Gerechtigkeitskonzepte eine grosse Rolle. Ich hoffe, mit meinen Veröffentlichungen zu Klimaschäden und -verlusten zumindest für diesen Bereich etwas konzeptionelle Klärung beigesteuert zu haben. Zumindest in der breiteren Forschung zu diesen Fragen werden meine Forschungsbeiträge wahrgenommen, weniger aber von anderen Kolleg_innen meiner eigenen Zunft. Das liegt wohl am interdisziplinären Charakter von vielem, was ich publiziere. Auch an politischen Foren mit wichtigen Mitgliedern des Schweizer Parlaments und der Regierung war ich schon beteiligt. In solchen Kontexten ist die grosse Herausforderung aber immer, gegenüber empirischer Forschung Gehör zu erhalten und als relevant zu gelten.

Sind Sie der Typ, der seine ܲú±ð°ùzeugungen vom «Philosophischen Lehnstuhl» auf die Strasse tragen würde, um einem Thema das nötige Gewicht zu verleihen?
Meine Forschungsergebnisse und Positionen trage ich regelmässig in die Medien und die Öffentlichkeit. Wenn es meine Zeit zulässt, bin ich mir nie zu schade, mich an politischen Foren oder anderen inter- und transdisziplinären Zusammenhängen zu beteiligen. Ebenso engagiere ich mich aus ܲú±ð°ùzeugung in der Universitätspolitik für mehr Nachhaltigkeit. In diesem Sinne trage ich als Professor der Universität Freiburg meine ܲú±ð°ùzeugungen in die Öffentlichkeit und beteilige mich an der politischen Debatte. Als Bürger werde ich unter Umständen auch noch anders aktiv, doch das tue ich als Bürger und nicht als Professor der UniFR. Deshalb gehört das nicht hierher.

Wichtig scheint mir bei all meinem Engagement als Forscher immer, klar zu machen, vor welchem Hintergrund ich mir erlaube, Positionen zu ergreifen. Ich bin als Forschender spezialisiert auf normative Fragen und habe keine Daten. Deshalb kann ich mich bei Aussagen über das Phänomen des Klimawandels nur auf die Forschung anderer stützen. Dies explizit zu machen, scheint mir wichtig. Zudem glaube ich auch, dass es wichtig ist, Gegenpositionen darzustellen bzw. anzuerkennen, wenn man als Ethiker eine Position vertritt. Sonst betreibt man Politik und ist nicht mehr als Forschender unterwegs. Dies ist nicht immer einfach, zumal man manchmal auch einfach Pflöcke einschlagen muss. Den menschengemachten Klimawandel zu leugnen, scheint mir aufgrund meiner Kenntnis der aktuellen Forschungsliteratur inakzeptabel. Genauso bin ich der Meinung, dass wir unsere liberalen und demokratischen Errungenschaften nicht leichtfertig über Bord werfen sollten.

Glauben Sie, dass Sie als Wissenschaftler die Legitimität oder sogar die Pflicht haben, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen?
Wir Forschende werden durch die öffentliche Hand finanziert und haben die Ehre, uns intellektuell mit denjenigen Dingen zu beschäftigen, in denen unsere Leidenschaft liegt. Nur schon deshalb sind Wissenschaftler_innen verpflichtet, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Darüber hinaus haben wir ein spezielles Wissen, das wir zum Besten der Gesellschaft erarbeiten. Dieses sollten wir nicht nur an unsere Studierenden weitervermitteln, sondern auch in die Öffentlichkeit tragen.

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Mit der Universität Freiburg verbundene christliche Gewaltopfer der NS-Zeit – dem Vergessen entreissen /alma-georges/articles/2023/mit-der-universitat-freiburg-verbundene-christliche-gewaltopfer-der-ns-zeit-dem-vergessen-entreissen /alma-georges/articles/2023/mit-der-universitat-freiburg-verbundene-christliche-gewaltopfer-der-ns-zeit-dem-vergessen-entreissen#respond Tue, 11 Apr 2023 09:00:48 +0000 /alma-georges?p=17965 Zahlreiche Personen, die vor und während des zweiten Weltkrieges Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten, und ihren Einsatz mit dem Leben bezahlten, haben an der Universität Freiburg studiert. Prälat Prof. Dr. Helmut Moll setzt sich dafür ein, dass ihre Schicksale nicht in Vergessenheit geraten. Am 26. April 2023 erzählt er an der Universität Freiburg ihre Geschichten.

1994 beauftragte Papst Johannes Paul II die Kirche, eine umfangreiche Aufarbeitung der Martyrer_innen des 20. Jahrhunderts zu erstellen und ihr Zeugnis zu bewahren – unter ausdrücklichem Miteinbezug auch nicht-katholischer Verfolgter. Die Deutsche Bischofskonferenz betraute Prälat Prof. Dr. Helmut Moll vom Erzbistum Köln mit dieser Aufgabe, die 1999 mit der Publikation des Werks «Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts» ihren Abschluss fand. In seiner aktuellsten Fassung wurde das Werk 2019 in überarbeiteter siebter Auflage veröffentlicht.

Unter Mitarbeit von 180 Fachgelehrten entstand von 1996 bis zur neuesten überarbeiteten Fassung ein Verzeichnis mit den Lebensbildern deutscher Martyrerinnen und Martyrer, die nach der Spezifikation von Papst Paul VI in folgende Kategorien eingeteilt werden:

  • Gewaltopfer des Nationalsozialismus
  • Gewaltopfer des Kommunismus
  • Reinheitsmartyrien von Frauen, Mädchen, Ordensschwestern und ihren Beschützern
  • Gewaltopfer in Missionsgebieten

Opfer nationalsozialistischer Gewalt mit Verbindungen nach Freiburg
Unter den 900 portraitierten Gewaltopfer im Martyrologium finden sich auch die Schicksale folgender Blutzeugen der nationalsozialistischen Herrschaft, die eng mit Freiburg und der Universität verbunden sind:

  • Pius Egger, Kartäusermönch, studierte Theologie in Freiburg
  • Max Josef Metzger, international tätiger Ökumeniker und Freiburger Diözesanpriester, studierte Theologie in Freiburg
  • Max Ulrich Graf von Drechsel, Gerichtsreferendar, studierte Rechtswissenschaften in Freiburg
  • Friedrich Karl Petersen, Pfarrvikar, studierte Theologie in Freiburg
  • Richard Kuenzer, Wirklicher Legationsrat, studierte Rechtswissenschaften in Freiburg
  • Robert Limpert, studierte Philosophie und Orientalistik in Freiburg
  • Edith Stein, Philosophin, suchte Zuflucht im Kloster Le Paquier bei Freiburg
  • Rupert Mayer, Jesuitenpater, studierte Philosophie und Theologie in Freiburg, starb kurz nach Ende des Krieges

In Anbetracht erneut aufflammender rechtsextremer Tendenzen in der Gesellschaft gibt Professor Moll diesen Personen ein Gesicht und entreisst sie so dem Vergessen, damit sich ihre Geschichten nie wiederholen.

Das Referat findet auf Einladung der Interfakultären Bibliothek für Geschichte und Theologie am 26. April 2023 um 18:30 Uhr im Saal MIS3016 statt.

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  • Veranstaltung in der
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Free-speech – Das Wort hat Sanja Hakala /alma-georges/articles/2023/free-speech-das-wort-hat-sanja-hakala /alma-georges/articles/2023/free-speech-das-wort-hat-sanja-hakala#respond Thu, 06 Apr 2023 09:00:50 +0000 /alma-georges?p=17976 Biologin und Wissenschaftskommunikatorin Sanja Hakala ist überzeugt, dass die akademische Welt es der Gesellschaft schuldet, sich aktiv öffentlich zu den grossen Problemen unserer Zeit zu äussern – bis hin zur Teilnahme an Protestaktionen. Teil drei unserer Serie über die Redefreiheit von Wissenschaftler_innen.

Ganz generell: Ist es jede Wahrheit wert, ausgesprochen zu werden?
Sowohl die Wahrheit an sich als auch die Absicht, sie auszusprechen, sind wichtig. Die Aufgabe der Forschung besteht selbstverständlich darin, die Wahrheit zu suchen und sie auch zu vermitteln. Wir müssen auch analysieren, wie die Wahrheit, das Wissen, in der Gesellschaft verwendet wird. Der Kampf gegen Fehlinformationen wird immer wichtiger, und dagegen können wir nur mit der Wahrheit ankommen.

Was ist Ihr Fachgebiet? Worüber forschen Sie?
Ich bin Wissenschaftlerin und Wissenschaftskommunikatorin. Ich arbeite als Post-Doc im Bereich Ökologie und Evolutionsbiologie und habe ausserdem letztes Jahr ein populärwissenschaftliches Buch über die biologische Vielfalt von Insekten veröffentlicht. Mein grösstes Interesse gilt der Evolution des Sozialverhaltens. Derzeit untersuche ich Ameisenkolonien und ihre Mund-zu-Mund-Fütterungsnetze, um herauszufinden, wie sich die Individuen auf molekularer Ebene gegenseitig beeinflussen können und wie dies der Ameisengesellschaft hilft, kooperativ zu bleiben.

Im Rahmen meiner akademischen Arbeit setze ich mich zunehmend für stärkere Massnahmen gegen den Zusammenbruch des Klimas und der Umwelt ein. Ich gehöre zu einem wachsenden internationalen Netzwerk von Forschenden, welche die Rolle der Wissenschaft und Kommunikationsstrategien in dieser Krise diskutieren.

Einige Wissenschaftler_innen, aktuell oft aus der Klimaforschung, veröffentlichen nicht nur ihre Ergebnisse, sondern versuchen auch, die Öffentlichkeit zu warnen und die Behörden zum Handeln zu bewegen. Sind Sie der Meinung, dass dies die Rolle der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist oder dass sie sich auf ihre Forschung beschränken und keine Stellung beziehen, resp. sich nicht einmischen sollte?
Ich habe Wissenschaftskommunikation studiert und weiss daher sehr gut, dass die Veröffentlichung in einer akademischen Zeitschrift für eine erfolgreiche Wissensverbreitung nie ausgereicht hat. Das ist nichts Neues.
Die wissenschaftliche Gemeinschaft hatte schon immer eine dreifache Aufgabe: Forschung zu betreiben, auf der Grundlage dieser Forschung die beste Ausbildung zu bieten und die Ergebnisse zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu vermitteln. Akademiker_innen standen schon immer an vorderster Front des gesellschaftlichen Wandels: Die Statistikerin Florence Nightingale und die Ärztin Elizabeth Garrett Anderson waren prominente Fürsprecherinnen der Suffragetten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht in Grossbritannien einsetzten. Führende Intellektuelle und Nobelpreisträger verfassten in den 1950er Jahren das berühmte Russell-Einstein-Manifest gegen Atomwaffen. Die Fürsprache und später auch die Akte des zivilen Ungehorsams des Klimawissenschaftlers James Hansen haben andere Akademiker dazu inspiriert, sich seit den 1980er Jahren für den Klimaschutz zu engagieren.

Die Tatsache, dass immer mehr Forschende in dieser Hinsicht aktiv werden, zeugt nicht von einem Wandel der akademischen Kultur, sondern von einer zunehmenden Gefahr für unsere Gesellschaft. Die Auswirkungen der Klimakrise sind in allen Bereichen des Lebens und der Forschung spürbar. Meiner Meinung nach ist die Vorstellung, die akademische Welt könne sich von der Gesellschaft abkoppeln, intellektuell unredlich, und sich auf Neutralität zu berufen heisst, den Status quo zu unterstützen. Als Ökologin gehört es zu meinen zentralen Aufgaben, mich darum zu sorgen, ob das Ökosystem und die natürlichen Populationen, die ich untersuche, am Leben bleiben oder nicht. Von der medizinischen Forschung wird erwartet, dass sie gegen Krankheiten und Leiden Stellung bezieht, Dieses Denken sollte auch für alle anderen Bereiche gelten. Die Rolle der Wissenschaft bestand nie darin, nur die Zerstörung zu dokumentieren.

Wie schätzen Sie den Einfluss ihrer Forschung auf die wissenschaftliche Debatte und die öffentliche Politik ein?
Die Ökologie steht natürlich im Mittelpunkt vieler der grossen Probleme unserer Zeit. Es gibt demnach viele Debatten, sowohl theoretisch als auch auf Anwendungsebene. Beispielsweise zeigen meine jüngsten Ergebnisse über die Ausbreitungsfähigkeit roter Waldameisen, einer Schlüsselspezies in borealen Wäldern, Zusammenhänge mit dem Erhalt von Lebensräumen und dem Rückgang der biologischen Vielfalt und wurden zur Diskussion über die Landnutzungspolitik herangezogen. Die Debatte über die Waldnutzung in Finnland ist derzeit ziemlich hitzig.

Sind Sie der Typ, der seine ܲú±ð°ùzeugungen vom «Labor» auf die Strasse tragen würde, um einem Thema das notwendige Gewicht zu verleihen?
Ja, das habe ich und werde ich wieder tun. Ich glaube, dass ziviler Ungehorsam, neben anderen Methoden des gewaltfreien zivilen Widerstands, notwendig ist, um unsere Gesellschaft schnell genug auf eine nachhaltige Zukunft auszurichten. Akademiker_innen haben jahrzehntelang über die Klima- und Umweltkrise kommuniziert, aber die Strategien, die wir angewandt haben, sind eindeutig gescheitert, da sich die Krisen nur noch verschärfen.

Ich ermutige alle Menschen, sich über soziale Bewegungen zu informieren und darüber, wie in der Vergangenheit grosse gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt wurden. Ich selbst habe ursprünglich nur Naturwissenschaften und keine Sozialwissenschaften studiert, daher waren mir diese Themen nicht besonders vertraut, aber sie sind äusserst wichtig. Ich bin mir bewusst, dass nicht alle mit meiner Haltung zum zivilen Ungehorsam einverstanden sind, und das ist natürlich in Ordnung. Aber als Akademiker_innen sollten wir uns eine fundierte Meinung bilden, anstatt uns auf blosse Intuition zu verlassen.

Glauben Sie, dass Sie als Wissenschaftlerin die Legitimität oder sogar die Pflicht haben, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen?
Unbedingt. Wir Akademiker_innen werden mit öffentlichen Mitteln zum Nutzen der Gesellschaft ausgebildet, also haben wir natürlich auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Eine davon ist es, immer wieder zu analysieren, wann und wie wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt werden sollen. Der aktuelle wissenschaftliche Konsens ist, dass wir auf eine zunehmend katastrophale Zukunft zusteuern – aber auch, dass es noch nicht zu spät ist und dass es Lösungen gibt, wenn wir sehr schnell handeln. Die Bevölkerung kann immer noch Druck auf die Politik ausüben, um unseren Kurs zu ändern. Ich sehe es als unsere Pflicht an, dies immer wieder laut auszusprechen.

Auch wenn einige Forscher_innen mit den Strategien von Aktivismusbewegungen wie Extinction Rebellion oder Renovate Switzerland überhaupt nicht einverstanden sind, sollten sie dennoch ihre Stimme einsetzen, um die forschungsbasierte Botschaft dieser Bewegungen zu legitimieren. Viele von uns Forschenden schreiben Erklärungen zur gesellschaftlichen Relevanz in unsere Fördergesuche, um zu begründen, warum wir mehr öffentliche Mittel für unsere Arbeit erhalten sollten. Aber seien wir ehrlich: Es reicht nicht aus, nur vorzugeben, Wirkung zu erzeugen.

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  • Seite von Sanja Hakalas Forschungsgruppe LeBoeuf Group
  • Paper zum Thema:
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Sprichwörtlicher Kurzbesuch im Mittelalter /alma-georges/articles/2023/sprichwortlicher-kurzbesuch-im-mittelalter /alma-georges/articles/2023/sprichwortlicher-kurzbesuch-im-mittelalter#respond Mon, 20 Mar 2023 08:15:03 +0000 /alma-georges?p=17787 Wer sich aufmerksam durch die Korridore des Gebäudes MIS04 bewegt, entdeckt am Anschlagbrett neben dem Büro des Mediävistischen Instituts (MIS 4123) seit Beginn des Frühlingssemesters 2023 grosse Weisheiten aus früherer Zeit. Geschäftsführer Dr. Martin Rohde veröffentlicht dort und online regelmässig das «Mittelalterliche Sprichwort der Woche», ein sprachlicher und philosophischer Kurzbesuch in einer Welt lange vor unserer Zeit.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, an der Pinnwand Ihres Instituts und auf dessen Website wöchentlich ein mittelalterliches Sprichwort anzubringen?
Sprichwörter waren im Mittelalter – das mag überraschen – ein sehr beliebtes Mittel, um in einem Gespräch oder auch Disput seinen Standpunkt argumentativ zu untermauern: In Romanen, in Gedichten, ja sogar in Predigten sind deshalb eine riesige Anzahl an Sprichwörtern überliefert. Heute geht es uns mit dieser Aktion darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen und neugierig zu machen auf die Fachgebiete unseres Instituts, vielleicht sogar durch Irritation einen Denkanstoss zu vermitteln oder einfach zum Schmunzeln Anlass zu geben.
Dazu kommt, dass ein Mitglied unseres Instituts, Prof. Hugo O. Bizzarri, zu Sprichwörtern und Exempeln (damit sind mittelalterliche Kurzerzählungen gemeint, die der Belehrung dienen) forscht, und bereits vor einigen Jahren hat das Institut zu diesem Thema eine Tagung im Rahmen der «Freiburger Colloquien» veranstaltet sowie anschliessend eine Publikation in der Reihe «Scrinium Friburgense» dazu herausgebracht. Wir haben also bei verschiedenen Gelegenheiten im Team über diese literarische Gattung gesprochen, und so kam ich auf die Idee, «Das mittelalterliche Sprichwort der Woche» zu lancieren.

Worauf achten Sie beim Auswählen der Sprichwörter?
Mittelalterliche Sprichwörter sind nicht unbedingt – wie wir das gewohnt sind – kurz und bündig, es gibt auch solche, die mehrere Verse umfassen. Solche eignen sich natürlich nicht für unsere Pinnwand. Wir suchen prägnante und konzise Sprichwörter, die man im Vorbeigehen lesen kann. Ausserdem müssen sie auch ausserhalb des jeweiligen praktischen Kontextes, in dem sie ursprünglich überliefert sind, verständlich sein. Ein Sprichwort wie etwa «Jene ist verrückt, deren Kopf so viele Haare hat wie Absalom» ist darum ungeeignet für unsere Pinnwand. Ausserdem wollen wir die verschiedenen Sprachen berücksichtigen. So wechseln wir in jeder Woche die mittelalterliche Sprache (Mittellatein, Mittelhochdeutsch, Provenzalisch, Altitalienisch, Altenglisch oder Altspanisch) und übersetzen das Sprichwort jeweils entweder in modernes Deutsch oder Französisch.

Zu welchen Themen finden sich im Mittelalter speziell viele Sprichwörter?
Es gibt zahlreiche Themenbereiche, zu denen im Mittelalter besonders viele Sprichwörter entstanden sind: Da wäre zum Beispiel der Bereich der Tierwelt zu nennen, wo es um den Vergleich von tierischen und menschlichen Verhaltensweisen geht. Oder Themenbereiche, die sich auf landwirtschaftliche Aktivitäten beziehen oder meteorologische Phänomene aufgreifen. Sprichwörter betrafen im Mittelalter moralische Fragen aller Art, denn sie dienten als Verhaltensregeln in einer Gesellschaft, in der die Mündlichkeit vorherrschte. Es gibt auch mittelalterliche Redensarten, die politische Grundsätze zum Ausdruck bringen, wie das berühmte Sprichwort «Rex a recte regendo». Es definiert den Charakter des Königs im Gegensatz zum Tyrannen: Der König solle regieren, indem er die Gesetze respektiert; andernfalls würde er zum Tyrannen. Heute dagegen mögen uns Sprichwörter zu moralischen Fragen oder solche, die der Ermahnung dienten, tugendhaft zu sein, womöglich bieder und unangenehm belehrend erscheinen.

Anschlagbrett neben MIS4123

Finden Sie auch Sprichwörter, deren Sinn sich Ihnen nicht erschliesst?
Tatsächlich gibt es mittelalterliche Sprichwörter, die heute schwierig zu verstehen sind, insbesondere solche, die sich auf damalige Gewohnheiten beziehen, mit historischen Ereignissen verbunden sind oder literarische Stoffe des Mittelalters aufgreifen. Dies sieht man gut etwa beim spanischen Sprichwort «Cedacilo nuevo, tres días en estaca» (Neues Sieblein, drei Tage am Pfahl). Es verweist auf den Brauch, den neuen Weinfilter drei Tage lang an einen Pfahl zu hängen, bevor man ihn verwendet, was metaphorisch auf die Sorgfalt hinweist, mit der die Dinge angepackt werden sollten. Oder das Sprichwort «Aachen wurde nicht in einer Stunde erobert», das ähnlich auf Spanisch oder Französisch existiert, wobei die Stadt auch durch Rom, Paris oder Zamora ersetzt wurde. Es erinnert daran, dass grosse Vorhaben schwer zu realisieren sind beziehungsweise Zeit brauchen.

Es gibt wohl eine grosse Anzahl Sprichwörter, die in gesellschaftlicher Hinsicht mit unserer Zeit nicht mehr kompatibel sind (etwa hinsichtlich des Frauenbilds usw.). Wie gehen Sie mit solchen Funden um?
Es kann nicht bestritten werden, dass es viele misogyne mittelalterliche Sprichwörter gibt (aber gilt das nicht auch noch für die Moderne…?). Allerdings gibt es auch zahlreiche mittelalterliche Sprichwörter, die sich über männliche Vertreter bestimmter Berufsgruppen lustig machen. Auch gibt es nicht wenige mittelalterliche Sentenzen, die etwa Bauern oder andere ,niedrige Schichten‘ lächerlich machen. Viele Sprichwörter wiederum – das mag erstaunen – warnen ausgerechnet vor den Vertretern der Kirche. In all diesen Fällen muss man sich bemühen, sie als Zeugnis einer Zeit zu verstehen, in der andere Prinzipien galten. Das nennt man «Archäologie des Wissens». Die Kulturen der Vergangenheit haben ihre eigenen Normen, und wir dürfen sie nicht anhand unserer eigenen Werte beurteilen. Für unsere Sprichwortauswahl lassen wir diese Sprichwörter jedoch einfach weg oder wir wählen eine überlieferte Variante, die nicht gender-, standes- oder berufsspezifisch formuliert ist.

Welches ist Ihr liebstes altes Sprichwort?
«Huelga, viejo, que bien page tu asno» (Ruh dich aus, Alter, denn dein Esel weidet gut)
In die heutige Jugendsprache übersetzt, würde das wohl heissen: «Chill deine base, Alter!»

Aber auch Sprichwörter, die universelle Wahrheiten mit Humor und Ironie ausdrücken, gefallen mir, wie zum Beispiel «Ce cuide li larron que tuit soient si compaignon» (Der Dieb denkt, dass alle so sind wie er selbst) oder «Aliquando bonus dormitat Homerus» (Manchmal ist es gut, dass Homer schläft).

Für wie lange reicht Ihre Sammlung an Sprichwörtern noch?
Mittelalterliche Sprichwörter gibt es unzählige. Samuel Singer hat eine Sammlung von romanisch-deutschen Sprichwörtern ediert: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi; die Sammlung umfasst 13 umfangreiche Bände, mit ca. 80’000 Sprichwörtern! Dann gibt es noch das sechsbändige Werk Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters aus dem Nachlass von Hans Walther und zahlreiche weitere Sammelwerke. Für unsere Pinnwand gäbe es also von den jahrhundertealten Sprichwörtern noch mehrere Jahrhunderte lang Nachschub.

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Und was machen Sie? – Die 1001 Berufe der Unifr #4 /alma-georges/articles/2023/und-was-machen-sie-die-1001-berufe-der-unifr-4 /alma-georges/articles/2023/und-was-machen-sie-die-1001-berufe-der-unifr-4#respond Fri, 10 Mar 2023 12:50:50 +0000 /alma-georges?p=17744 Kennen Sie den Beruf der Person, die Ihnen gerade im Flur begegnet ist? Unsere Universität ist eine wahre Schatzkiste voller Wissen und Können. In dieser Serie nehmen wir Sie mit auf eine Entdeckungsreise zu den Menschen und Berufen, die unsere Institution täglich am Leben erhalten. In dieser vierten Episode erzählt uns Ariane Linder, Verantwortliche der Dienststelle Uni-Social und Ombudsfrau, wie ihre persönliche Unifr aussieht.

Ariane Linder, erzählen Sie uns von sich!
Mein Name ist Ariane Linder, ich bin aufgewachsen und wohnhaft im Sensebezirk. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder (7 und 9 Jahre). Meine Familie ist mir sehr wichtig, zusammen erleben wir viele spannende und bereichernde Momente.

Nach dem Gymnasium studierte ich an der Universität Freiburg Soziale Arbeit und Sozialpolitik. Später kam ein MAS in Psychosozialem Management dazu. Nach dem Studium arbeitete ich erst in einem Sozialdienst später in einer spezialisierten Ausbildungsstätte und seit 2014 an der Unifr. Damals hiess die Dienststelle noch Dienst für Sozialberatung und Studienbeihilfe. Vieles hat sich seither verändert – auch, dass ich seit 2018 zusätzlich als Ombudsfrau tätig bin und entsprechend eine Ausbildung im Bereich Mediation und Konfliktlösungskompetenz abgeschlossen habe.

Ariane Linder

Und was ist jetzt Ihr Beruf an der Unifr?
Verantwortliche der Dienststelle Uni-Social, welche ebenfalls die Career Services beinhaltet, sowie Ombudsfrau.

Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Vielseitig, spannend, herausfordernd und unvorhersehbar im positiven Sinne. Meine Aufgaben umfassen unter anderen die Leitung der Dienststelle Uni-Social mit ihren zehn Mitarbeitenden. Die Dienststelle unterstützt finanziell jährlich an die 200 Studierende und bietet, wo nötig und gewünscht, Coachings und Beratung in Sozialversicherungs-, Stipendien- und Budgetfragen an.

Die Universität bietet als Arbeitsplatz eine ganz besondere Atmosphäre. Was gefällt Ihnen gut und was weniger?
Die angenehme Zusammenarbeit im Team, der Kontakt mit den Studierenden und sämtlichen Mitgliedern der Universitätsgemeinschaft ist abwechslungsreich, inspirierend und bereichernd. Viele Ideen konnten bereits umgesetzt werden und neue Projekte konkretisiert werden. Es ist ein Umfeld, in dem Veränderung möglich und unterstützt wird.

Es gibt natürlich auch immer wieder Dinge, die mir weniger gefallen. Aber an jenen will ich mich nicht aufhalten. Das Positive überwiegt bei weitem.

Gibt es Vorteile, die Sie gerne nutzen (z. B. Sportkurse)?
Die Universität Freiburg bietet viele Vorzüge. Im Speziellen schätze ich die kulturelle Bereicherung, die Sprachenvielfalt, die angenehme Grösse und noch bis vor ein paar Jahren nutzte ich das tolle Krippenangebot. Schliesslich ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch ein hochaktuelles Thema.

Was sagen Sie einer Person, die sich an der Unifr bewerben möchte?
Es erwartet dich ein spannendes inspirierendes Umfeld, so bunt wie die angebotenen Vorlesungen, das durch jede einzelne Person bereichert und nuanciert wird.

Welcher ist Ihr Lieblingsort?
Mein Arbeitsplatz bietet die schönste Aussicht. Es ist ein Privileg hier arbeiten zu können.

Blick aus Ariane Linders Büro

Welches ist Ihr liebstes Werkzeug oder Arbeitsinstrument?
Die Macht der Wörter. Worte sind mein Lieblingswerkzeug, sie bieten Kraft, Hoffnung, Empathie und vieles mehr. Oder wie Ludwig Wittgenstein sagte: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Erzählen Sie uns eine typische/lustige/berührende Anekdote Ihrer Arbeit.
Oh, davon gibt es viele. Menschen, die voller Verzweiflung, Leid und Hoffnungslosigkeit um Hilfe bitten und das Büro mit dem Gefühl verlassen, einen kleinen Schritt in die richtige Richtung getan zu haben.

Was macht für Sie ein_e gute_r Arbeitgeber_in aus?
Wenn Mitarbeitende als Ressource geachtet, respektiert und gefördert werden, damit sie ihr volles Potential einbringen können.

Die Unifr unter den besten Arbeitgeberinnen der Schweiz
Jedes Jahr erstellen Le Temps und die Handelszeitung gemeinsam mit der Statistikorganisation Statista eine Rangliste der . Das obligatorische Home Office, die Bewältigung der damit verbundenen Folgen sowie die Anpassung an eine neue Situation, die unter anderem aus dem Wunsch der Mitarbeitenden besteht, ihre Zeit und ihren Arbeitsort flexibler und autonomer zu gestalten, stellen eine grosse Herausforderung für Unternehmen und Institutionen dar – so die beiden Medien. Für das Ranking der besten Arbeitgeber_innen 2022 wurden über 1’500 Arbeitgeber_innen mit mindestens 200 Mitarbeitenden ermittelt. Die Universität Freiburg mit ihren 2’500 Angestellten belegt Platz 177 in der Gesamtrangliste und Platz 17 in der Kategorie Bildung und Forschung.

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  • Webseite der Dienststelle Uni-Social
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AЯGOS – Das neue Journal in der Religionswissenschaft /alma-georges/articles/2023/a%d1%8fgos-das-neue-journal-in-der-religionswissenschaft /alma-georges/articles/2023/a%d1%8fgos-das-neue-journal-in-der-religionswissenschaft#respond Tue, 14 Feb 2023 08:10:09 +0000 /alma-georges?p=17636 Was tun, wenn es zwar eine grosse Anzahl gehaltvoller religionswissenschaftlicher Journale gibt, sie sprachlich aber nur einer begrenzten Leserschaft zugänglich ist? Man gründet einfach sein eigenes mehrsprachiges Journal und stellt es als Open Access-Publikation allen Interessierten zur freien Verfügung. Prof. Oliver Krüger vom Departement für Sozialwissenschaften hat sich mit Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa dieser Aufgabe angenommen und Ende 2022 das viersprachige Web-Journal AЯGOS auf Kurs gebracht.

Wie sind Sie auf die Idee für dieses Journal gekommen?
Seit langem schon hat mich das Problem beschäftigt, dass die meisten Fachzeitschriften in der Religionswissenschaft nur noch einsprachig publizieren, was ein Rückschritt gegenüber den 1960er Jahren darstellt, obwohl es insgesamt heute viel mehr Journale gibt. Das bewirkt, dass bestimmte Fachdebatten über Sprachgrenzen hinaus nur sehr verzögert (oder gar nicht) wahrgenommen werden. Daher bieten wir das Journal in den vier Sprachen deutsch, französisch, englisch und italienisch an.
Ein zweites Moment war die Beobachtung, dass Journale mit Printauflagen unter steigendem Kostendruck dazu tendieren, den Umfang zu begrenzen, d.h. vertiefte Abhandlungen von 20–30 Seiten sind kaum noch möglich.
Im Weiteren wollten wir ein reines Open Access-Journal ohne Zusatzkosten schaffen, das ohne Barrieren zugänglich ist und keine Gebühren von der Autorenschaft verlangt. Beides hätte Effekte entweder auf die Verfügbarkeit des Journals (nicht jede Universität kann sich teure Abos leisten) oder die Qualität (wenn ein Journal im Prinzip dafür bezahlt wird, etwas zu publizieren).
Impulse verdankt das Projekt letztlich der spezialisierten Open Access-Zeitschrift , die ich 2005 mitbegründet habe und dem ausgezeichneten Journal meiner Kollegin aus der Sozialanthropologie, Prof. Agnieszka Joniak-Lüthi.

Wie setzt sich das Team hinter AЯGOS zusammen?

Anstossen auf den Launch des Journals (v.l.n.r.): Oliver Krüger, Alice Küng, Andrea Rota, Thomas Henkel

Im engeren Herausgeberkreis sind dies Prof. Anja Kirsch (Trondheim), Prof. Andrea Rota (Oslo), Prof. Christophe Monnot (Strasbourg), zum Freiburger Team in der Redaktion gehören ferner Alice Küng, Maxime Papaux und Dr. Ricarda Stegmann. Ich möchte dabei noch betonen, dass ohne die geduldige Unterstützung von Herrn Thomas Henkel von der Kantons- und Universitätsbibliothek das Projekt in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.

Welche Leserschaft sprechen Sie an? Wen wollen Sie erreichen?
Wir sprechen ein breites Publikum an, das an der akademischen Religionsforschung interessiert ist und neben der eigentlichen Religionswissenschaft auch die Theologien, Anthropologie, Soziologie, Geschichte usw. einschliesst. Der Untertitel des Journals «Perspektiven in der Religionswissenschaft» impliziert bereits, dass wir uns «Religion» in Relation zu anderen gesellschaftlichen Feldern und aus interdisziplinärer Perspektive nähern wollen.

Welche Inhalte setzen Sie in den Mittelpunkt? Wie wählen Sie die Inhalte aus?
Es war uns ein Anliegen, nicht ein weiteres spezialisiertes Fachjournal der Religionswissenschaft ins Leben zu rufen, sondern eine starke «programmatische» Perspektive einzufordern. Das bedeutet, dass wir auch bei empirischen Fallstudien ein starkes Gewicht auf die theoretische Reflexion legen (das umgedrehte R im Journaltitel verweist darauf). Unter diesem Blickwinkel veröffentlichen wir im Kern ܲú±ð°ùsetzungen von aktuellen und klassischen Texten der Religionswissenschaft und Originalartikel in den vier genannten Sprachen. Dazu gehören auch Interviews und Foto-Essays sowie Buchrezensionen. Die ܲú±ð°ùsetzungen sollen relevante Texte dort sichtbar machen, wo sie noch gar nicht verfügbar waren oder auch die Nutzung im Studium erleichtern.

Wohin wollen Sie mit AЯGOS? Welche Ziele wollen Sie erreichen?
Wie die Reise der Heroen und Heroinen auf dem Schiff Argos ist auch die Wissenschaft ein Abenteuer, der Ausgang der Reise ist ungewiss… Wir verfolgten seit den ersten Vorüberlegungen im Jahr 2020 das grundsätzliche Ziel, in dieser Periode des digitalen Wandels ein Journal zu gestalten, das auch im Jahr 2030 noch funktionieren wird. In den nächsten drei bis fünf Jahren wird es darum gehen, das Journal zu etablieren und insbesondere die jüngere Generation der Forschenden mit ihren Ideen einzubinden, um die Religionswissenschaft programmatisch weiterzuentwickeln, also neue Fragen aufzuwerfen, neue Felder zu erschliessen und methodische Ansätze zu diskutieren. Ideal wäre, wenn wir es noch schaffen würden, das Spanische ins Journal zu integrieren.

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80 Jahre Sozialanthropologie in Freiburg /alma-georges/articles/2023/80-jahre-sozialanthropologie-in-freiburg /alma-georges/articles/2023/80-jahre-sozialanthropologie-in-freiburg#respond Thu, 09 Feb 2023 15:00:49 +0000 /alma-georges?p=17471 Die Sozialanthropologie in Freiburg feierte Ende 2022 ihr 80-jähriges Jubiläum. Die meisten Menschen kennen die Soziologie einer- und die Anthropologie andererseits. Was sind aber Sozialanthropolog_innen bzw. was tun sie genau?

Prof. Agnieszka Joniak-Lüthi, Prof. Madlen Kobi, Sie forschen an der Einheit für Sozialanthropologie des Departements für Sozialwissenschaften der Universität Freiburg. Beschreiben Sie kurz, worin die Arbeit von Sozialanthropolog_innen besteht.
Madlen Kobi: Sozialanthropolog:innen erforschen Menschen in ihren sozialen Kontexten, d.h. wir untersuchen nicht körperliche Merkmale (wie es die physische Anthropologie tut), sondern interessieren uns für die Organisationsformen von menschlichen Gemeinschaften. Unsere Stärke liegt in der methodologischen Herangehensweise: Wir kombinieren verschiedene Arten von Interviews mit teilnehmender Beobachtung, was immer mit einer langfristigen Interaktion mit den Personengruppen einhergeht, die im Zentrum der Untersuchung stehen. Egal ob Milchbäuer_innen oder Bauarbeiter_innen, das Eintauchen in ihre Lebenswelten ermöglicht uns, das Handeln und Denken der Erforschten möglichst ganzheitlich aufzuzeigen. Unsere Analysen integrieren dabei immer die Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Komplexität der sozialen Welten in denen unsere Forschungsteilnehmer_innen leben.

Agnieszka Joniak-Lüthi: Als Sozialanthropolog_innen erforschen wir auch die gesellschaftlichen Machtstrukturen und sozialen Ungleichheiten und reflektieren diese in unserer Methodologie. Um diese Machtunterschiede in unserer Forschung nicht zu reproduzieren, bemühen wir uns darum, eine Vielfalt von Stimmen in unsere Analyse einzubeziehen. Wir befragen nicht nur Expert_innen und andere Personen, deren soziale Stellung sie sichtbar macht, sondern auch Personen, die schwieriger zu finden und deren Stimmen im übertragenen Sinne «leiser» sind. Die Feldforschung, sie dauert oft ein Jahr oder länger, ermöglicht uns den Wandel und die Vielseitigkeit eines Forschungsfelds zu beobachten und Personen anzutreffen, die wir sonst nie kennenlernen würden. Während einer Feldforschung lernen wir auch viel durchs Mitmachen, weil wir mit unseren Forschungsteilnehmenden leben, reisen, kochen, Gäste empfangen oder auch arbeiten.

Sie feierten am 2. Dezember 2022 den runden Geburtstag der Einheit für Sozialanthropologie. Auf welche Errungenschaften kann die Sozialanthropologie in Freiburg zurückblicken?

Prof. Agnieszka Joniak-Lüthi

AJL: Die Sozialanthropologie ganz generell, und die in Freiburg ganz besonders, hat es in meinen Augen geschafft, sich in der postkolonialen Welt neu zu erfinden und aktuelle Fragestellungen zu entwickeln, auch wenn wir uns dem kolonialen Erbe der Disziplin durchaus bewusst sind. Die Sozialanthropologie in Freiburg war bis 1989 sehr eng mit dem Missionierungswesen und der katholischen Kirche verbunden – Prof. Christian Giordano, der 1989 die Professur für Sozialanthropologie in Fribourg angetreten hatte, war der erste Nicht-Pater in dieser Funktion. Mit seinem Forschungsschwerpunkt auf sozialistische und postsozialistische Gesellschaften sprach er hochaktuelle Themen an, die für Europa von zentraler Bedeutung waren und immer noch sind. Heute, mit unseren Forschungsschwerpunkten in China, Zentralasien, Europa und Afrika, sowie Forschungsprojekten zu dezentralen Formen der Energieversorgung, zu Kreislaufwirtschaft, Cyber-Sicherheit, Transportinfrastruktur, Klima, Migration und Gender behandeln wir in unserer kleinen Einheit ein breites Spektrum an hochaktuellen Themen.

Und was bedeutet dieses Jubiläum für Sie persönlich?
MK: Für mich kommt das Jubiläum zeitgleich mit meinem Antritt als Assistenzprofessorin an der Einheit für Sozialanthropologie. Ich identifiziere mich wenig mit den früheren, missionarisch ausgerichteten Lehrstühlen für Sozialanthropologie, die unser Fach hier in Freiburg bis in die 1980er Jahre prägten. Doch auch heute noch beschäftigen uns Rassismus, Kunstraub und Nähe zur kirchlichen Mission, da sie Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen haben – man denke an die Debatten zu ethnographischen Museumssammlungen und zur kolonialen Rolle der Schweiz. Während unsere Forschungsschwerpunkte auf zeitgenössischen Phänomenen liegen, berücksichtigen wir immer deren historische und kulturelle Einbettung.

AJL: Für mich war dieser Anlass eine Gelegenheit, kurz innenzuhalten und uns als Team wahrzunehmen und der breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Es war toll zu erleben, wie motiviert das Team an den Vorbereitungen mitgewirkt hat, auch die Studierenden, die in kürzester Zeit ein Multimedia-Projekt zum Thema Sozialanthropologie auf die Beine gestellt haben. Dabei wurde mir erst richtig bewusst, welche Vielfalt an Forschungsprojekten und welch kreatives Potential wir in der Einheit haben.

Wie kam die Sozialanthropologie überhaupt nach Freiburg? Und dann auch noch in so einer turbulenten Zeit wie dem Zweiten Weltkrieg!
MK: Das hatte mit der Stärke der damaligen katholischen Kirche in Freiburg zu tun. Pater Wilhelm Schmidt, ein anerkannter Religionswissenschaftler und Ethnologe, kam im Zuge des 2. Weltkriegs von Wien nach Freiburg, wo er 1942 den ersten Lehrstuhl für Ethnologie etablierte. Mit ihm migrierte auch das Anthropos-Institut, damals das Zentrum der Wiener Kulturkreislehre. Danach wurde der Lehrstuhl immer wieder von Priestern besetzt, bis 1989 mit Christian Giordano erstmals kein Pater, sondern ein Soziologe mit Interesse an Sozialanthropologie die Leitung übernahm.

AJL: Diese früheren Verflechtungen mit dem Missionierungswesen und der katholischen Kirche, sowie die problematischen Biographien mancher Pater-Professoren ist ein Thema, dass wir bald in einem Seminar aufarbeiten möchten.

Ein Blick auf Ihre Website zeigt verschiedene Forschungsschwerpunkte, etwa in den Bereichen Infrastruktur, Stadt, digitale Welten, Mobilität, Familie und Gender. Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen? Welche Fragen beschäftigen Ihre Einheit aktuell?

MK: Die Forschungsprojekte an der Einheit sind sehr vielfältig: Wir analysieren den Bau bzw. Zerfall von Energie- und Verkehrsinfrastrukturen in Asien und Europa, aber auch gesellschaftliche, politische und kulturelle Transformationen in Bergregionen. Wir beschäftigen uns mit den Herausforderungen von nordafrikanischen Migrant_innen genauso wie mit den Lebenswelten von Hacker_innen. Ich selbst untersuche mit meinem Team, wie wir als Menschheit mit den enormen Abfallströmen aus der Bauindustrie umgehen wollen. Welches Wissen und welche Fähigkeiten brauchen Architekt_innen, Ingenieur_innen aber auch Schrotthändler_innen, um die Kreislaufwirtschaft im Bau voranzutreiben? Statt von unendlich verfügbaren Ressourcen auszugehen, arbeiten wir mit Pionier_innen zusammen, die einen sparsameren und bewussteren Umgang mit Baumaterialien vorantreiben.

Strassen können auf ganz unterschiedliche Weise benutzt werden, so wie hier zum Trocknen von Sonnenblumenkernen in Kirgistan; ©Agnieszka Joniak-Lüthi

Und mit welchen Fragen werden sich die Sozialanthropolog_innen in Zukunft beschäftigen (müssen)?
AJL: Ein neues Thema, das ich in den nächsten Jahren gerne entwickeln würde, ist die zunehmende Standardisierung unseres Essens sowie die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung. In unserer Forschung werden wir auf jeden Fall nah an aktuellen gesellschaftlichen Themen bleiben.
Was ich ebenfalls als wichtig erachte und weiter ausbauen möchte, ist die Verbindung zu Industrie und Politik. In meinem Team legen wir Wert darauf, dass unsere Forschungsresultate breit zirkulieren und auch nicht-akademische Kreise erreichen. Wir erarbeiteten zum Beispiel eine , die die anthropologische Feldforschung auf zugängliche Weise reflektiert und entmystifiziert. Weiter haben wir zwei Factsheets (Links siehe unten) veröffentlicht, die sich an Regierungen, NGOs, Medien und Think-Tanks richten. Zu diesem Zweck haben wir Kontakte mit entsprechenden Partner_innen aufgebaut. Das erfordert viel Zeit, ist für uns aber von zentraler Bedeutung, um die Gesellschaft und Politik mitgestalten zu können.
Ein Teil davon ist auch das Engagement für den freien Zugang zu Wissen, Stichwort «Open Access». Madlen Kobi und ich arbeiten an dieser Entwicklung aktiv mit und leisten durch die Gründung des Webjournals einen Beitrag dazu.

Prof. Madlen Kobi

MK: Die Verbreitung des Internets und die Verlagerung vieler sozialer Aktivitäten ins Digitale wird uns sicherlich noch länger beschäftigen. Zu diesem Thema bietet unsere Einheit zusammen mit der Religionswissenschaft und der Soziologie ab dem Herbstsemester 2023 auch einen neuen 30 ECTS Master zu «Digital Society» an. Aber auch globale Migrationsströme und die Reaktionen darauf im globalen Norden bleiben weiterhin ein Thema, genauso wie der Klimawandel und die damit einhergehenden Veränderungen, nicht nur für Menschen an überfluteten Küstenregionen oder entlang von schmelzenden Permafrostböden, sondern auch als Treiber politischer Organisationen weltweit.

Zum Schluss: Es gibt Witze über Germanist_innen, Sozialarbeiter_innen… Gibt es auch Witze über Sozialanthropolog_innen?
MK: Wer gehört alles zu einer modernen Navajo-Familie? – Mutter, Vater, Kinder, Grossmutter und ein_e Sozialanthropolog_in!

Oder auch: In einer Hütte mitten im Regenwald sitzt eine Gruppe Indigener. Als sie zum Fenster hinausblicken, meint der eine: «Hey, da kommt ein Sozialanthropologe. Schnell, lass uns den Fernseher verstecken!»

Diese Witze beziehen sich vor allem auf die frühere Art, wie Sozialanthropolog_innen forschten, nämlich in – aus westlicher Perspektive – «abgelegenen» Gebieten der Welt, wo sie die religiösen, politischen oder gesellschaftlichen Organisationsformen dokumentierten. Heute beschäftigen wir uns aber längst nicht mehr nur mit Ritualen der ‘Anderen’, sondern betreiben Forschung zu Migration in der Schweiz, Gender in Armenien, Wasserkraft in den Alpen oder zur Bauwirtschaft in Städten.

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Literaturwettbewerb 2022: «Mit Greta im Gebirge» /alma-georges/articles/2023/literaturwettbewerb-2022-mit-greta-im-gebirge /alma-georges/articles/2023/literaturwettbewerb-2022-mit-greta-im-gebirge#respond Thu, 02 Feb 2023 13:17:29 +0000 /alma-georges?p=17444 Der traditionelle Literaturwettbewerb der Universität Freiburg findet alle zwei Jahre statt. Ausgezeichnet werden Texte in den Sprachen, die in der Hochschullehre vertreten sind. Gewinnerin in der deutschen Sprache ist im Jahr 2022 Alyna Reading.

Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Literaturwettbewerbs. Was bedeutet Ihnen dieser Sieg?
Es freut mich, dass meine Kurzgeschichte der Jury gefallen hat. Umso mehr, als dass der Text mir persönlich viel bedeutet. Es ist schön, für sich selbst zu schreiben, aber die Anerkennung hat mich auch motiviert, wieder mehr Zeit in meine Texte zu investieren.

Warum haben Sie an diesem Wettbewerb teilgenommen?
Einer meiner Spanisch-Dozenten hat die Teilnehmenden unseres Kurses auf den Wettbewerb aufmerksam gemacht. In seinem Seminar mussten wir immer mal wieder Kreativtexte schreiben. Da dachte ich mir: Solange ich nicht auf Spanisch schreiben muss, kann ich es mal probieren.

Was hat Sie motiviert, diesen Text zu schreiben?
Eine erste Version dieses Textes entstand nach einer sechsstündigen Wanderung im Schwarzsee. Mich liess ein Bild nicht mehr los: Ich ging mit meinen Freundinnen über einen Grat zum Patraflon, als plötzlich eine Wolke über uns hereinrollte. Wo zuvor strahlend blauer Himmel gewesen war, konnte man nun keinen Meter weit sehen. Es war, als beschränke sich die Welt auf diesen schmalen Grat. Der Kontrast zwischen den bunten Blumen und der weissen Wolkenwand beeindruckte mich. Sobald ich zu Hause angekommen war, versuchte ich diese Atmosphäre in einer Geschichte einzufangen.

Alyna Reading stammt aus dem Gantrischgebiet im Kanton Bern und hat 2022 ihren Bachelor in Zeitgeschichte und Spanisch an der Uni Freiburg abgeschlossen.

Ohne viel zu verraten: Worum geht es?
«Mit Greta im Gebirge» handelt von zwei Frauen, die auf einer Wanderung in ein Gewitter geraten. Dort sind sie der Natur in einer Weise ausgesetzt, die sie im Alltag nicht kennen. Ich habe versucht, dieses Ausgeliefertsein einzufangen. In solchen Moment erleben wir ja nicht nur die Welt intensiver, sondern auch unsere eigenen Ängste und Sehnsüchte.

Haben Sie eine Schreibroutine?
Ich rede mir ein, dass ich absichtlich keine Routine habe. Literarische Texte schreibe ich zur Freude und daher einfach dann, wenn ich Lust dazu habe. Um nicht aus der Übung zu kommen, schreibe ich Tagebuch. Für mich ist klar: Damit ich gut schreiben kann, muss ich etwas erleben. Wenn ich nichts zu sagen habe, dann macht es mir keinen Spass zu schreiben. Ich möchte nicht, dass das Schreiben eine Aufgabe wird, die ich abhaken muss, so wie andere unliebsame Arbeiten.

Wie würden Sie Ihren Schreibstil beschreiben?
Ich kenne mich nicht so gut aus, mit literarischen Stilen und Epochen, wie ich dies vielleicht nach meinem Studium sollte. Ich versuche mit kurzen Sätzen eine Stimmung zu schaffen. Vielleicht würde ich manche Elemente als «magischen Realismus» bezeichnen.

Wer sind Ihre literarischen Vorbilder?
Obwohl ich keine Gedichte schreibe, sind die meisten meiner literarischen Idole Dichter_innen: Rilke, Bachmann, Whitman. Mir gefällt auch der magische Realismus der südamerikanischen Literatur. Besonders Isabel Allendes «Das Geisterhaus» hat mich sehr geprägt.

Sind weitere literarische Projekte geplant?
Im Januar habe ich eine Kurzgeschichte bei der Ausschreibung der Solothurner Literaturtage eingereicht. Jetzt schreibe ich wieder an einem Text für eine Ausschreibung. Mal schauen, ob die Texte bei der Jury Anklang finden. Mein Traum wäre es eine Kurzgeschichtensammlung zu veröffentlichen. Aber wer weiss? Genügend Ideen hätte ich jedenfalls.

Auszug aus «Mit Greta in den Bergen»
Mich faszinieren die Geschichten, die man sich über die Berge erzählt. Vieles scheint möglich, dass ich mir unten im Tal, in der Stadt, nie vorstellen könnte. Vielleicht liegt es an der Höhenluft, aber hier oben übermannt mich bisweilen eine heilige Scheu.
«Kennst du eine dieser Geschichten?», fragt Greta.
Ich schaue sie von der Seite her an. Auch vor ihr ergreift mich eine heilige Scheu. Sie ist klug und hübsch und denkt sich viel, ohne zu sprechen. Beim Lachen kneift sie die Augen zu, wie jemand der gerne mit seinen Gedanken allein ist.

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  • des Literaturwettbewerbs

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