Benedikt Meyer – Alma & Georges /alma-georges Le magazine web de l'Université de Fribourg Mon, 14 Aug 2023 07:33:55 +0000 fr-FR hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.5 Tellerwäscher im Niemandsland /alma-georges/articles/2021/tellerwascher-im-niemandsland /alma-georges/articles/2021/tellerwascher-im-niemandsland#respond Thu, 11 Feb 2021 14:07:15 +0000 /alma-georges?p=13105 Mit ihrer Dissertation «Bleiberecht in der Gastroküche» hat Jacqueline Kalbermatter gerade den Nachwuchspreis für Arbeitssoziologie, industrielle Beziehungen und Gewerkschaftsforschung in der Schweiz gewonnen. Sie sagt, der Titel sei sarkastisch.

Frau Kalbermatter, herzliche Gratulation zum Preis. Salopp formuliert dreht sich Ihre Arbeit um «Tellerwäscher» – aber von wem reden wir hier ganz konkret?
Danke. Der Fokus meiner Dissertation liegt auf geflüchteten Arbeiter_innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Das ist in der Schweiz ja relativ kompliziert. Einerseits geht es um Leute mit Status N – also Personen, die in einem Asylverfahren sind und auf einen Entscheid warten. Andererseits geht es um Leute mit Status F – also Menschen, die einen Wegweisungsentscheid erhalten haben, bei denen aber sogenannte «Wegweisungsvollzugshindernisse» vorliegen. Beispielsweise, weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. Und drittens geht es um abgewiesene Asylsuchende, die einen Wegweisungsentscheid erhalten, die Schweiz aber nicht verlassen haben. Ihr Aufenthalt in der Schweiz gilt als illegal. Allen gemein ist, dass ihr Aufenthalt mit immensen Unsicherheiten und fehlenden Rechten verbunden ist.

Da sind wir tief in den Mühlen der Migrationsbürokratie. Sprechen wir denn da von vielen Leuten?
Über den Daumen sind es vielleicht 60’000 Personen. Aber bei diesen zeigen sich Mechanismen, die auch sonst im Migrations- und Arbeitsbereich relevant sind.

Diese Leute mit unsicherem Aufenthaltsstatus arbeiten unter anderem in Küchen von Gastronomiebetrieben. Wie haben sie deren Lebens- und Arbeitsumstände nun untersucht?
Ich habe Gastro-Unternehmer_innen interviewt, habe mit den Arbeiter_innen selbst gesprochen und habe eine ethnographische Feldstudie gemacht – ich bin also auch selbst in diese Küchen arbeiten gegangen. Dabei hat mich interessiert, wie die Dynamiken und Strukturen in diesen Küchen sind.

Es ging mir bei meiner Dissertation darum, Migrations- und Arbeitssoziologie zusammenzubringen. Ich wollte untersuchen, was die migrationspolitischen Regulierungen im konkreten Arbeitsalltag der Menschen für Auswirkungen haben. Ich fand das auch deshalb relevant, weil im Asylbereich immer wieder Experimente durchgeführt werden, die später auf andere Personengruppen ausgedehnt werden.

Wie muss man sich denn den Alltag in diesen Küchen vorstellen?
Im Arbeitsalltag der Abwaschküche ist man einer hohen Belastung ausgesetzt. Es ist eine immense physische Verausgabung. Dazu gehört etwa das Heben und Tragen schwerer Töpfe, das Schrubben verkrusteter Pfannen und das Ausräumen des heissen Geschirrs aus der Spülmaschine. Auch ist die Arbeit zumeist mit einer äusserst hohen Arbeitsintensität verbunden.

Es gibt in den Küchen verschiedene Arbeiten, vom Tellerwäscher bis zum Sternekoch. Die unterscheiden sich nach Ansehen und Lohn. Zugleich unterscheiden sich die Leute, die die Arbeiten verrichten, nach geografischer Herkunft und nach dem Aufenthaltsstatus. Meine These ist, dass die Geflüchteten mit unsicherem Aufenthaltsstatus auf der untersten Stufe der betriebsinternen Hierarchie landen.

Da kann man sagen: Gut, die können die Sprache nicht, sind vielleicht schlecht ausgebildet. Meine Frage aber zielt in eine andere Richtung. Warum kommen die Leute da nicht raus?

Und? Warum kommen sie da nicht raus?
Die Arbeitsverhältnisse werden durch ihren unsicheren Aufenthaltsstatus beeinflusst. Für sie ist es schwierig, überhaupt eine Arbeitsstelle zu besetzen. Gleichzeitig stellt eine Arbeitsstelle die einzige Möglichkeit für ein Bleiberecht in der Schweiz dar, mit dem sie sich aus der unsicheren Aufenthaltssituation hieven können. Die Leute tun alles, um eine Aufenthaltsbewilligung, also eine B-Bewilligung zu erhalten. Also sind sie bereit, auch unter prekären Verhältnissen weiterzuarbeiten. –  Der Titel meiner Arbeit ist durchaus sarkastisch gemeint. Die Menschen haben die Aussicht auf ein Bleiberecht, wenn sie in der Küche bleiben.

Haben Sie dazu vielleicht ein konkretes Beispiel?
Ich habe eine Person kennengelernt, die schon seit über 15 Jahren in der Schweiz ist, einen F-Ausweis hat und verschiedene Stellen gehabt, aber diese immer wieder verloren hat. Und das nicht, weil sie gekündigt hätte – das tun die Leute, mit denen ich zu tun hatte, eigentlich allgemein nicht, weil sich dadurch die Aussicht auf eine feste Aufenthaltsbewilligung verschlechtert.

Die betreffende Person hat eine grosse Familie, die Gastrolöhne sind da einfach nicht existenzsichernd. Ein existenzsichernder Lohn ist aber die Voraussetzung, damit man eine feste Aufenthaltsbewilligung erhält. Man muss sozialhilfeunabhängig sein. Das ist aber sehr schwierig, weil in der Gastronomie oft auf Abruf gearbeitet und im Stundenlohn bezahlt wird.

Wenn das Restaurant an einem freien Tag anrief und sagte «Wir haben Leute, du musst kommen», dann kam die Person. Wenn sie dann doch nicht gebraucht wurde, hat sie auch das akzeptiert, und so weiter. Sie sagte: «Wenn ich schon mal eine Stelle habe, dann halte ich auch daran fest und mache alles mit. Denn das ist mein einziger Weg, um aus meiner unsicheren Aufenthaltssituation herauszukommen.»

Das Beispiel ist typisch: Stundenlohnbeschäftigte haben stets die Hoffnung, festangestellt zu werden. Und Festangestellte tun alles, um nicht in den Stundenlohn, die Arbeitslosigkeit und die Sozialhilfe zurückgeschleudert zu werden.

Wie kommt man denn überhaupt zu diesem gelobten B-Status?
Als Geflüchtete_r mit unsicherem Aufenthaltsstatus kann man ein Härtefallgesuch stellen. Voraussetzung für einen Erfolg sind aber mindestens 5 Jahre Aufenthalt in der Schweiz, diverse weitere Bedingungen sowie eine Stelle, die sichert, dass man nicht auf die Sozialhilfe angewiesen ist. Wie immer gibt es kantonale Unterschiede. Meine Studie lief im Kanton Bern und hier muss man mindestens ein Jahr lang eine feste Stelle haben. Ausnahmen gibt es nur für Spezialfälle wie Alleinerziehende.

Ohne B-Bewilligung hat man tiefere Ansätze in der Sozialhilfe, kann die Familie nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen nachziehen und hat ganz allgemein mit vielen Unsicherheiten und fehlenden Rechten zu kämpfen.

Und die Gastrounternehmer_innen nutzen die Verletzlichkeit der Geflüchteten aus?
In der Studie geht es nicht darum, die Unternehmer_innen allgemein als Sklaventreiber anzuprangern – das braucht es auch nicht. Man muss die Leute nicht anpeitschen, länger oder härter zu arbeiten. Viele tun das ohnehin, weil sie so sehr auf die Arbeitsstelle angewiesen sind.

Manche Vorgesetzte beschäftigen Geflüchtete durchaus aus humanistischen Motiven. Sie sprechen etwa davon, dass sie bei der sogenannten «Integration» helfen und ihnen eine «Chance» geben wollen. Aber erstens unterliegen auch sie einer unternehmerischen Logik und die tiefen Margen in der Gastronomie erlauben wenig Spielraum. Und zweitens gehen auch mit humanistischen Argumentationen Kulturalisierungen von Geflüchteten einher.

Wie liesse sich die Situation der Leute denn nun verbessern?
Diese Frage hat mich auch sehr beschäftigt. Ich habe eine utopische Antwort und eine reformistische. Die utopische wäre, dass wir uns überlegen, was Migrationspolitik eigentlich bedeutet und dass wir zum Schluss kommen, das heutige Migrationsmanagement abzuschaffen. Die reformistische Variante wäre, dass die Koppelung von Arbeits- und Aufenthaltssituation aufgelöst wird.

Man sollte Fragen wie Familienzusammenführung von der Arbeit unabhängig machen. Und man sollte sich überlegen, inwiefern die vielen verschiedenen Status-Kategorien überarbeitet werden können. Ganz allgemein sollte die Exklusion der Rechte überwunden werden. Rechte, die für den Rest der Gesellschaft ganz selbstverständlich gelten, sollten auch für diese Menschen gelten. – Aktuell geht es allerdings eher in die andere Richtung …

Wer könnte etwas bewegen, damit es für die Geflüchteten in eine bessere Richtung geht?
Gewerkschaften oder soziale Bewegungen, die sich für Antirassismus engagieren. Diese müssten zeigen, dass Arbeit und Asyl zusammenhängen. Und das erscheint logisch am Ende eines solchen Gesprächs, aber es ist etwas, das den meisten Menschen nicht bewusst ist. Das skizzierte Bild ist oft «Beim Asyl gehts um Schutz, das hat nichts mit Arbeit zu tun». Aber Asylpolitik ist de facto eben auch Arbeitsmarktpolitik.

Und sobald man einer bestimmten Gruppe bestimmte Rechte verwehrt, hat das für diese auch massive Konsequenzen im Arbeitsmarkt. Man kann die Frage auch umdrehen: Was passiert mit diesen Menschen, wenn sie eine stabile Aufenthaltsbewilligung und somit mehr Rechte erhalten? Welchen Effekt hat das auf ihre Biografien? Das würde mich brennend interessieren. Dazu braucht es aber definitiv noch mehr Forschung.

__________

«Bleiberecht in der Gastro-Küche. Migrationspolitische Regulierungen und Arbeitsverhältnisse von Geflüchteten mit unsicherem Aufenthaltsstatus.»

]]>
/alma-georges/articles/2021/tellerwascher-im-niemandsland/feed 0
Wie Freiburgerinnen für das Stimmrecht kämpften /alma-georges/articles/2021/wie-freiburgerinnen-fur-das-stimmrecht-kampften /alma-georges/articles/2021/wie-freiburgerinnen-fur-das-stimmrecht-kampften#respond Fri, 05 Feb 2021 13:19:41 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=13051 Vor 50 Jahren sagten die stimmberechtigten Schweizer Männer endlich «JA» zum Frauenstimmrecht. Das Projekt «Hommage 2021» erweist den Pionierinnen die Referenz. Irma Gadient gibt fünf Freiburgerinnen ein Gesicht.

Frau Gadient, was muss ich mir unter «Hommage 2021» vorstellen?
Hommage 2021 ist ein historisch-künstlerisches Projekt, das die Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht in den Fokus rückt. Es ehrt Frauen, die für politische Rechte kämpften und sich für gesellschaftliche Gleichberechtigung stark machten. In einem Teilprojekt wurden Expertinnen aus allen Kantonen der Schweiz angefragt, fünf bis acht Vorkämpferinnen vorzustellen. Ihre vielfältigen Biografien sind auf in einer virtuellen Ausstellung zu entdecken.

Parallel dazu werden 52 Frauenportraits ab dem 7. Februar in der Berner Altstadt zu sehen und zu hören sein. Mittels QR-Code können Zitate der Frauen, die von Schauspielerinnen eingelesen wurden, gehört werden. Die geplante Lichtprojektion auf das Bundeshaus, die am 7. Februar Premiere feiern sollte, musste coronabedingt verschoben werden.

Sie haben im Rahmen dieses Projekts fünf Freiburgerinnen portraitiert. War der Kanton Freiburg für die Frauen ein besonders schwieriges Pflaster?
Bei der ersten nationalen Abstimmung 1959 sagten tatsächlich 70% der Freiburger Stimmberechtigten «Nein» – das sind sogar noch etwas mehr als die knapp 67% im landesweiten Durchschnitt. Zwölf Jahre später sagten 71% der Stimmberechtigten im Kanton «Ja» – etwas mehr als die 66% des Schweizer Durchschnitts!

Das ist ein starker Meinungsumschwung. Was geschah denn in diesen 12 Jahren, dass die Männer ihre Haltung so änderten?
Das ist kaum auf eine einfache Formel zu bringen. Es gab zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, die sich auf die Geschlechterverhältnisse auswirkten: Frauen konnten sich besser ausbilden und wurden in verschiedenen Berufen präsenter. Es gab Innovationen, vom Kühlschrank bis zur Antibabypille. Der Umbruch von 1968 prägte die Gesellschaft. Die bürgerlichen Parteien und die katholische Kirche änderten in diesem Zeitraum ihre Haltung zum Frauenstimm- und Wahlrecht. 1959 sagte die Kirche in Freiburg «Nein» und die Bürgerlichen beschlossen «Stimmfreigabe», was mit «Nein» gleichzusetzen ist. 1971 sprachen sich auch diese Akteure für ein «Ja» zum Frauenstimmrecht aus. Zahlreiche Freiburger Frauen hatten mit ihrem jahrzehntelangen beharrlichen Kampf massgeblichen Anteil daran, dass die Vorlage 1971 angenommen wurde.

Interessant ist, dass die Freiburgerinnen im Kampf um das Frauenstimmrecht 1959 und 1971 auf sehr unterschiedliche Argumente und Strategien setzten.

Inwiefern?
1959 wurde mit dem Prinzip der Rechtsgleichheit von Frau und Mann argumentiert. Der Abstimmungskampf von 1971 wurde anders geführt: Die Frauen führten eher eine Komplementarität der Geschlechter an und es gab Slogans wie: «Für die Frauen ein herzliches Ja».

Erwähnen möchte ich die Strategie der Historikerin Jeanne Niquille 1959: Sie argumentierte aus historischer Perspektive und zeigte auf, dass es im Kanton Freiburg im 18. Jahrhundert – beispielsweise in Villars-sur-Glâne – Gemeindepräsidentinnen gegeben hatte. Sie verwies damit auf eine «Freiburger Tradition» der politischen Rechte von Frauen.

Wenn Sie sich die Freiburger Vorkämpferinnen ansehen, gibt es da etwas, das diese Frauen verbindet?
Sie waren gut ausgebildet. Und sie verhielten sich untereinander solidarisch, waren auch mit der Schweizer Frauenstimmrechtsbewegung sehr gut vernetzt. Nicht alle Frauen waren in Freiburg geboren, einige stammten aus anderen Schweizer Kantonen oder anderen europäischen Staaten. Anne Reichlen-Gellens etwa wurde in Belgien geboren. Es gab alleinstehende Frauen ohne Kinder genauso wie verheiratete Familienfrauen.

Foto Madeleine Joye-Thévoz: Besitz Familien Joye

Eine dieser Frauen war Madeleine Joye-Thévoz. Können Sie uns kurz erzählen, wer sie war?
Madeleine Joye-Thévoz wurde 1906 in Freiburg geboren und engagierte sich bereits sehr früh für die politischen Rechte von Frauen. Schon als 18-Jährige nahm sie an Veranstaltungen der Schweizer Frauenbewegung teil. Dabei schlief sie, weil sie kein Geld hatte, oft einfach irgendwo im Stroh. Sie wollte unbedingt die Frauenrechtlerinnen kennenlernen und zum Beispiel erfahren, wie man einen Frauenstimmrechts-Verein führt.

Sie war Lehrerin und unterrichtete junge Frauen in Staatsbürgerinnenkunde, wobei sie diese mit feministischer Literatur bekannt machte. Sie betonte, dass politische Rechte vom Geschlecht unabhängig sein müssen und fiel immer wieder mit mutigen Aktionen auf. Sie engagierte sich stark im Abstimmungskampf von 1959. Mitstreiterinnen fanden sie mitreissend, Gegner beschrieben sie als exzentrisch. Ihr Verdienst war es unter anderem, dass sie den Staatsrat dazu zwang, Farbe zu bekennen. Dass sie und andere Frauen 1959 keinen Erfolg hatten, lag letztlich an der zu starken Gegnerschaft.

 

Foto Augusta Kaelin-Anastasi: Besitz Familie Meyer-Kaelin

Und inwiefern verhielten sich die Kämpferinnen von 1971 anders?
Das kann ich am Beispiel von Augusta Kaelin-Anastasi beschreiben. Sie ist in Lugano aufgewachsen und hat an der Universität Freiburg studiert. Später lebte sie im Bezirk Gruyère, einem der Bezirke, die 1959 den höchsten Neinstimmen-Anteil aufwiesen. Kaelin organisierte, dass in jedem Dorf eine Frau mit Blumen von Hof zu Hof ging, um die Menschen mit «Charme» zu überzeugen. Augusta Kaelin arbeitete auch eng mit den Männern ihrer Partei – der CVP – zusammen. Sie war ab 1971 in der Legislative von Bulle politisch aktiv und wäre eigentlich gerne Grossrätin geworden, musste dann aber aus parteipolitischen Gründen hinter männlichen Kandidaten zurückstehen. Ihre Tochter Thérèse Meyer-Kaelin wurde später Nationalrätin und 2005 sogar Nationalratspräsidentin. Und auch andere weibliche Familienmitglieder, darunter zwei Enkelinnen Augustas, sind politisch engagiert.

Wie haben die Menschen denn auf diese Frauen reagiert?
Es gibt eine interessante Reportage des RTS von 1969- eine historische Perle! Sie zeigt in einem Ausschnitt, wie die Frau eines Bezirksobmanns von Hof zu Hof geht, und zwar keine Blumen verteilt, aber mit den Menschen übers Frauenstimmrecht spricht. Das Interesse war gross, gerade auch am Bürgerrechtsunterricht, den Sekundarlehrpersonen für interessierte Frauen auf dem Land anboten.

Quelle: https://rts.ch/play/tv/redirect/detail/3474385

Zurück zum Projekt Hommage 2021: Ist es zeitlich befristet oder bleibt es in einer Form erhalten?
Die Frauenporträts bleiben aufgeschaltet. Über 50 neue Frauenporträts sind in Arbeit für eine Aufnahme in das Historische Lexikon der Schweiz (https://hls-dhs-dss.ch/de/). Das Gosteli-Archiv, eine wichtige Partnerin von Hommage2021, das die Geschichte der Frauenbewegung aufbewahrt, steht allen interessierten Personen offen. Die Ausstellung der Frauenporträts an den Berner Hausfassaden ist bis Ende Juni befristet. Vielleicht finden sich ja künftig noch andere Formen der Würdigung: Es werden Stimmen laut, dass viele Freiburger Frauen schon längst einen Strassennamen verdient hätten. Jeanne Niquille beispielsweise, die promovierte Historikerin und innovative Archivarin, hat für Freiburg enorm viel geleistet – nach ihr ist bis jetzt erst ein Archivsaal benannt.

__________

des Projekts «Hommage 2021»
von Irma Gadient

]]>
/alma-georges/articles/2021/wie-freiburgerinnen-fur-das-stimmrecht-kampften/feed 0
Im Spannungsfeld zwischen Lehrpersonen und Schüler_innen /alma-georges/articles/2020/im-spannungsfeld-zwischen-lehrpersonen-und-schulern /alma-georges/articles/2020/im-spannungsfeld-zwischen-lehrpersonen-und-schulern#respond Mon, 30 Nov 2020 12:57:04 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=12265 Marc Wittwer hat für seine Masterarbeit mit dem Titel «Wie hast du es so mit der Schweigepflicht?» – Eine qualitative Studie zu den Äusserungsformen der Vertraulichkeit in der Schulsozialarbeit den Ethikpreis des Hochschulrates erhalten. Ein Gespräch über den Umgang mit Vertrauen und Vertrauensbrüchen.

Herr Wittwer, beginnen wir beim Titel: «Wie hast du es so mit der Schweigepflicht?» – Wie kam’s zu dem?
Das ist ein Zitat eines Schulsozialarbeiters. Er hatte seine neue Stelle angetreten und am Telefon fragte ihn die Schulpsychologin wie er es mit der Schweigepflicht hat. Ich fand das charakteristisch. Denn es gibt Regeln und Richtlinien – und es gibt deren individuelle Interpretation. Dieses Spannungsfeld wollte ich in meiner Arbeit ausloten.

Was tun Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter überhaupt?
Sie schaffen ein sehr niederschwelliges Beratungsangebot für Schülerinnen und Schüler. Sie sind da, wo die Kinder sind und beraten bei familiären Problemen, bei schwierigen Klassendynamiken, Mobbing, Problemen mit Lehrpersonen, etc. Oft bieten sie aber auch Präventions- und Aufklärungskurse zu verschiedenen Themen an. Der Beruf ist noch relativ neu und die Aufgaben werden lokal unterschiedlich definiert. Welche Rolle der oder die Schulsozialarbeiter/in im Schulhaus hat, hängt darum oft auch stark ab von der Schulleitung, der Organisationsform sowie von der Person, die den Job ausübt. Für mich war genau das ausgesprochen interessant.

Und diese Schulsozialarbeiter erfahren von den Kindern allerhand Informationen, über die sie schweigen müssen.
Genau, das ist gesetzlich definiert. Andererseits gibt es aber auch ein Melderecht und teilweise gar eine Meldepflicht. Wenn eine Schulsozialarbeiterin sieht, dass ein Kind gefährdet ist – zum Beispiel weil es von seinen Eltern misshandelt wird – muss sie es der KESB melden, sonst macht sie sich strafbar. Aber das ist ein Extremfall. Im Alltag gibt es sehr viel mehr Graubereiche gerade im Austausch mit den Lehrkräften. Da gibt es einen erheblichen Interpretationsspielraum, wie freigiebig man Informationen weitergibt, oder eben nicht.

Welche Kommunikationsmuster haben Sie denn da gefunden?
Man kann grob gesagt drei Kategorien machen. Zunächst gibt es jene, die vom Kind aus denken. Die sagen sich «Wenn mich ein Lehrer etwas fragt, habe ich grundsätzlich mal Schweigepflicht. Bevor ich etwas weitererzähle kläre ich immer zuerst mit dem Kind, ob ich das darf.» Das sind typischerweise die Leute, die auch drauf achten, nicht mit den Lehrern in die Pause zu gehen. Man könnte das den eher distanzierenden Ansatz nennen.

Den zweiten Ansatz nenne ich konfliktiv. Diese Leute versuchen einen Mittelweg. Sie wissen, dass sie vom Kind ausgehen müssen, sind zugleich aber auch eingebunden in ein Team. Sie versuchen, den Wünschen von Schülern und Lehrpersonen gerecht zu werden. Das ist nicht einfach und so ertappen sie sich dann oft im Nachhinein, dass sie Lehrkräften Dinge gesagt haben, die sie eigentlich nicht hätten weitergeben sollen. Ich habe beispielsweise eine Schulsozialarbeiterin interviewt, die mehrfach gesagt hat: «Ja, und dann habe ich gemerkt, Mist, das hätte ich gar nicht dürfen. Und dann habe ich dem Lehrer gesagt, er soll’s nicht weitererzählen».

Und schliesslich gibt’s den voll kooperativen Ansatz. Diese Leute sagen sich «Meine Arbeit ist eine Dienstleistung an den Lehrpersonen. Ich werde von der Schule bezahlt und wenn ein Lehrer etwas wissen will, dann sage ich ihm das auch.» Die Lösen sich von der Kinderperspektive. Und das bringt natürlich auch wieder Probleme mit sich.

Zum Beispiel?
Ein Schulsozialarbeiter erzählte von einer Schülerin, die gerade auf die schiefe Bahn geriet. Er sprach mit der Mutter und die vertraute ihm an, dass sie sich von ihrem Mann trennen werde. Sie dachte, die Tochter wisse davon noch nichts. In Tat und Wahrheit kannte die Tochter aber den Handy-Code ihrer Mutter und las deren Nachrichten, was sie dem Schulsozialarbeiter auch erzählt hatte. Sie war also im Bild. Der Sozialarbeiter hatte ein schlechtes Bauchgefühl und beschloss, mit dem Lehrer zu sprechen. Der wiederum telefonierte später mit der Mutter, die sich über die schulischen Leistungen ihrer Tochter informieren wollte. In diesem Gespräch erzählte sie dem Lehrer, dass sie sich trennen werde – worauf der Lehrer sagte «Ja, ich weiss, ich habe davon gehört».

Uff.
Die Mutter war stinksauer auf den Sozialarbeiter. Der wiederum konnte aber natürlich nicht sagen, dass die Tochter die SMS liest. Eine ganz schwierige Situation.

Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter bewegen sich also in einem Spannungsfeld an Ansprüchen. Haben Sie herausgefunden, wie sie damit am besten umgehen?
Ich glaube nicht, dass es nur einen richtigen Weg gibt. Die Lösung ist vielmehr, dass man sich dieses Spannungsfelds bewusst ist und sich Gedanken macht, wie man sich darin positioniert. Wenn man das geklärt hat, gibt es Techniken, die man anwenden kann. Wenn mich ein Lehrer etwas fragt, kann ich sagen, «Sorry, Schweigepflicht» und dann mit dem Kind besprechen, was ich ihm sagen darf und was nicht. Oder ich sage «Sorry, ich muss grad ins Büro» und gewinne so Zeit, um zu überlegen, was ich ihm antworte. Oder ich sage ihm «Komm in mein Büro und wir besprechen die Frage dort». Oder wenn ich ganz offene Atmosphäre kreieren will, beantworte ich ihm die Frage gleich auf dem Gang.

Es gibt kein richtig oder falsch, aber es hilft, wenn man ein klares Konzept hat. Gerade weil in der Schulsozialarbeit vieles noch nicht so genau definiert ist, sollte man seine berufliche Rolle immer wieder reflektieren – sei’s allein für sich oder in Inter- und Supervisionen. Was steht in den Richtlinien? Was im Ethikkodex? Arbeite ich jetzt noch als Schulsozialarbeiter oder einfach für die Lehrkräfte? Gute Beziehungen mit Lehrpersonen, Schulleitung, Schulpsychologen, KESB, etc. sind wichtig, aber man sollte sich auch nicht anbiedern.

Es braucht eine professionelle Linie. Hat man die nicht, gerät man ins Schlingern. Und wer schlingert, der ist für die Kinder nicht berechenbar. Dann vertrauen sie einem nicht und ohne das Vertrauen der Kinder kann man keine Schulsozialarbeit machen.

Letzte Frage: Was bedeutet der Preis für Sie?
Er ist eine schöne Anerkennung. Eine akademische Laufbahn habe ich aber trotzdem nicht eingeschlagen. Ich arbeite inzwischen beim BAG, da wird einem im Moment auch nicht langweilig. Mit dem Preisgeld werde ich vermutlich eine schöne Reise machen und endlich mal unbesorgt Steuern zahlen (lacht).

]]>
/alma-georges/articles/2020/im-spannungsfeld-zwischen-lehrpersonen-und-schulern/feed 0
Going Norte – Migrationsgeschichten in Spanglish /alma-georges/articles/2020/going-norte-migrationsgeschichten-in-spanglish /alma-georges/articles/2020/going-norte-migrationsgeschichten-in-spanglish#respond Wed, 14 Oct 2020 15:11:00 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=11732 Die Latinos sind bereits heute die grösste Minderheit in den USA. Welche Geschichten erzählen sie sich? Welche Bücher schreiben sie? Sebastian Imoberdorf ist diesen Fragen nachgegangen und hat dafür den Vigener-Preis erhalten. Ein Gespräch über Migration, Identitäten und den American Dream.

Herr Imoberdorf, Sie haben zur Literatur der Latinos in den USA doktoriert und dafür kürzlich den Vigener-Preis erhalten. Welche drei US-lateinamerikanischen Bücher sollte man denn gelesen haben – und weshalb?
Das ist keine leichte Aufgabe! Die US-Latino-Literatur ist breit, vielfältig und von hoher Qualität. Müsste ich mich auf drei Titel beschränken wären es die folgenden:

– Ein Klassiker ist sicherlich El Corrido de Dante [«Dantes Corrido»] von Eduardo González Viaña, der mit einem ironischen Augenzwinkern die Migration von Latinos in die USA thematisiert. Er stellt sie in Anlehnung an Dante Alighieris Göttlicher Komödie als Reise durch Hölle und Fegefeuer dar, die am Schluss ins vermeintliche Paradies führen soll.

– Als zweites würde ich den Roman Más allá del invierno [«Ein unvergänglicher Sommer»] von Isabel Allende nennen, der das Zeitgeschehen aufgreift und als Kritik am amtierenden US-Präsidenten und seiner Migrationspolitik gelesen werden kann.

– Eines meiner Lieblingsbücher ist jedoch Norte [«Norden»] von Edmundo Paz Soldán. Es skizziert sehr individuelle Migrationserfahrungen, hinterfragt stereotype Vorstellungen und verknüpft gekonnt verschiedene Genres, wie etwa den Migrations- und den Kriminalroman.

Wie sind Sie denn persönlich zu diesem Thema gekommen?
Migration beschäftigt mich schon lange. Auch meine eigene Familie besitzt eine kleine Migrationsgeschichte: Einige meiner Vorfahren sind im 19. Jahrhundert nach Argentinien ausgewandert, mein Grossonkel nach Kalifornien. Als ich an der Universität Freiburg ein Seminar zum Thema «US-Latino-Literatur» besuchte, fing ich unverzüglich Feuer und wusste, dass ich mich mit der Thematik vertieft auseinandersetzen wollte. Ich denke, dass das Migrationsthema immer schon gegenwärtig war, dass es aber im aktuell angespannten politischen Klima polemisch debattiert wird und auch künftig immer wieder hitzig diskutiert werden wird. Migrationsbewegungen gab es seit jeher und wird es auch immer geben. Das wird sich auch mit den stärksten Mauern nicht ändern lassen.

Mit welchen Themen setzen sich die US-Latino-Autor_innen denn besonders auseinander?
Die Frage der Identität beschäftigt die meisten Schriftsteller_innen. Dieser Diskurs hat sich in den letzten Jahrzehnten aber stetig weiterentwickelt. Während es in den ersten Werken vor allem um eine kollektive kulturelle Identität ging, hat sich die Identitätsfrage heute vervielfältigt und differenziert, was Verallgemeinerungen entgegenwirkt und die komplexe, heterogene Realität besser darstellt.

In meiner Dissertation stelle ich für die Literatur des neuen Jahrtausends zwei Tendenzen fest. Erstens kommen die Autor_innen davon ab, kollektive Migrationserfahrungen zu beschreiben. Sie bevorzugen individuelle Geschichten. Und zweitens gewinnt neben der kulturellen auch die soziale und sexuelle Identitätsbildung an Bedeutung. Es geht heute nicht mehr nur darum zu fragen, wer die Latinos sind, sondern wer die Latina bzw. der Latino ist. Immer häufiger wird auch der geschlechtergerechte Terminus «Latinx» verwendet.

Diese individuellen Migrationserfahrungen führen die Latinos aus eher konservativen in eine liberalere Gesellschaft. Finden die «Latinx» in den USA grössere Freiheiten? Und wie ergeht es da insbesondere Frauen und LGBTQI?
Das ist in der Tat so. Insbesondere Latinas und Mitglieder der LGBTQI-Gemeinschaft migrieren von einem Umfeld, das noch viel stärker von patriarchalischen und heteronormativen Strukturen geprägt ist in ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der soziokulturellen Diversität. Das klingt positiv, die Wirklichkeit sieht jedoch häufig etwas anders aus. Dies zeigt zum Beispiel der Erzählband Historias prohibidas de Marta Veneranda [«Die verbotenen Geschichten von Marta Veneranda»] der lesbischen Autorin Sonia Rivera-Valdés. Den vorwiegend weiblichen Figuren fällt es oft schwer, in der neuen Heimat eine Rolle zu finden, die sich nicht ausschliesslich auf das Häusliche beschränkt. Sie haben Mühe, sich aus dem auferlegten Korsett der Ursprungsgesellschaft zu lösen und soziale Normen und Tabus zu durchbrechen. Interessant ist dabei, dass auch die lesbischen Figuren die von ihrer Ursprungskultur geerbten Rollenverteilungen (aktiv vs. passiv) im neuen Kontext zunächst reproduzieren, sie dann aber hinterfragen und schliesslich aufzuheben versuchen. Zu all diesen Schwierigkeiten kommt die Konfrontation mit rassistischen Verhaltensmustern hinzu, die die Eingliederung in die Gastgesellschaft zusätzlich erschweren.

Wie wird denn die Migration in der US-Latino-Literatur beschrieben? Mit welchen Hoffnungen machen sich die Leute auf den Weg und auf welche Schwierigkeiten stossen sie?
Die Motive für die Migration sind sehr vielfältig. Ein häufiger Auslöser ist die instabile politische Lage in den lateinamerikanischen Ländern – etwa die Diktaturen, die Bürgerkriege oder auch der Drogenhandel in Kolumbien und Mexiko. In Zusammenhang damit kann der Wunsch nach freier sexueller Entfaltung stehen. In Reinaldo Arenas novellistischer Autobiografie Antes que anochezca [«Bevor es Nacht wird»] geht es zum Beispiel um die Verfolgung von Homosexuellen unter dem Castro-Regime, während welchem viele Mitglieder der LGBTQI-Gemeinschaft aus Kuba flohen. El sueño de América [«Américas Traum»] von Esmeralda Santiago wiederum handelt von häuslicher Gewalt und davon, wie die puerto-ricanische Protagonistin América diesen Teufelskreis durchbricht, indem sie in New York ein selbstständiges, neues Leben beginnt. Und nicht zuletzt ist der vielzitierte American Dream ein wiederkehrendes Motiv. Viele Latinos migrieren gen Norden, weil sie dort Arbeit, Erfolg und bessere Lebenskonditionen für sich und ihre Familien zu finden hoffen. Diese Vielfalt von Gründen spiegelt auch die Realität wider, denn jede Migrationsgeschichte ist individuell.

Auf dem Weg in die USA lauern vor allem auf «illegale» Migranten viele Gefahren. Aufgrund ihres irregulären Status wählen sie versteckte und gefährliche Wege und durchqueren etwa den Río Bravo oder die Wüste. Andere reisen auf dem Dach des Güterzugs La Bestia [«Die Bestie»], wo sie Gefahr laufen, herunterzufallen oder von kriminellen Banden ausgeraubt und, im Falle der weiblichen Migrantinnen, vergewaltigt zu werden. All dies wird in der US-Latino-Literatur thematisiert und beschrieben.

Die Latinos sind die grösste Minderheit in den USA. Es gibt mehr Latinos, als Schwarze. Wo leben diese Leute? Was arbeiten sie? Und wie finden die Latinos einen Platz in den USA?
Einmal in den USA angekommen warten weitere Schwierigkeiten auf die Latinos: der Kulturschock, das Fehlen von Papieren und folglich von Arbeit. In meiner Dissertation habe ich mich auf das Konzept der Akkulturation berufen, in dem untersucht wird, inwieweit sich die Migrant_innen in die Gastgesellschaft eingliedern. Lehnen sie die neue Kultur ab und führen sie ihr altes Leben in sogenannten Enklaven weiter? Integrieren sie sich, ohne dabei Werte und Gepflogenheiten zu verlieren? Oder passen sie sich sogar so stark an, dass sie mit ihrer Ursprungskultur brechen? Auch hier sind die Erfahrungen in den Romanen sehr unterschiedlich. Im untersuchten Korpus werden dabei etwa Gastarbeiter ohne Papiere, Angehörige der Mittelklasse, aber auch Universitätsprofessoren dargestellt – was wiederum sehr gut der heterogenen Realität der Latinos in den USA entsprechen dürfte.

Wie steht es denn um die Erfolgsgeschichten?
Die gibt es natürlich. Jedoch erfüllt sich der American Dream nicht für alle, für manche wird er sogar zu einem American Nightmare. Die Idee, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen, wird den Latinos durch berühmte Persönlichkeiten wie etwa Jennifer Lopez, Salma Hayek, Ricky Martin oder Benicio del Toro vorgelebt. Dazu kommen die Erfahrungsberichte von Verwandten, die es in den USA «geschafft» haben, die sich ein regelmässiges Einkommen erarbeitet und ein neues Leben aufgebaut haben. Viele vergessen jedoch, dass solche Erfahrungen nicht für alle gelten und dass der Weg zum Erfolg ein langer und harter ist.

Die Migration (going west) und die Hoffnung auf ein besseres Leben sind eigentlich ur-amerikanische Motive. Kommt die Latino-Literatur denn auch ausserhalb der Community an? Und wird sie als amerikanische Literatur verstanden?
Die US-Latino-Literatur findet sogar sehr grossen Anklang. Beweise dafür sind das Erscheinen verschiedener Werke auf der New York Times bestseller list, die Schaffung von Latino ÌÇÐÄVolg-Lehrstühlen an zahlreichen Universitäten und die Diskussion der Thematik im akademischen wie auch im öffentlichen Leben. Verwunderlich ist dies nicht, wenn man bedenkt, dass fast 60 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA leben. Die US-Latinos sind mehr als eine Minderheit, sie sind eine Realität und ihre Literatur kann auf jeden Fall als amerikanische verstanden werden. Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, dass sie sowohl als nord- als auch als lateinamerikanische Literatur betrachtet werden kann.

Jedoch sollte meines Erachtens zwischen Englisch und Spanisch verfassten Texten unterschieden werden. Die englischen Werke stossen sicher in der Gesamtgesellschaft auf grösseres Interesse, da sie für ein breiteres Publikum zugänglich sind – auch für Latinos der dritten oder vierten Generation, die in die US-amerikanische Gesellschaft hineinwachsen und manchmal gar kein Spanisch mehr sprechen, aber auch für diejenigen englischsprachigen US-Amerikaner, die sich ganz einfach für die Thematik interessieren. Mein persönlicher Anreiz war es jedoch, in meiner Doktorarbeit die Romane spanischsprachiger US-Latinos zu behandeln, da deren Literatur, im Vergleich zur englischsprachigen, erst sehr rudimentär untersucht wurde. Darin sah und sehe ich weiterhin enormes Potential.

Welche Rolle spielt denn das Spanische heute im amerikanischen Alltag? Als ich vor einigen Jahren in Kalifornien war, sah ich beispielsweise zweisprachige Werbungen und Restaurants, die Stellen für Küchenpersonal gar ausschliesslich auf Spanisch ausschrieben.
Spanisch spielt im amerikanischen Alltag eine sehr grosse Rolle. Bereits jetzt ist es die erste und wichtigste Fremdsprache und gemäss Schätzungen sollen die USA im Jahr 2060 sogar das zweitgrösste spanischsprachige Land der Welt sein. Diese Entwicklung findet sich natürlich auch in der US-Latino-Literatur – in der spanisch- wie auch in der englischsprachigen. Die Romane weisen einen hohen Anteil an Spanglish (Mischform aus Englisch und Spanisch) auf und auch das sogenannte Code-Switching (Wechsel von einer Sprache zur andern innerhalb einer Äusserung) ist ein fester Bestandteil der Texte. Auffallend ist dabei, dass diese Stilmittel vor allem in Zusammenhang mit der Identitätsfindung benutzt werden.

Was denken Sie, worüber schreiben Latino-Autor_innen in 10, 20 oder 50 Jahren?
Einerseits werden sich US-Latino-Autor_innen wohl weiterhin am Zeitgeist orientieren. So überrascht es beispielsweise nicht, dass es bereits literarische Reaktionen auf die gegenwärtige Migrationspolitik gibt. Neben dem eingangs erwähnten Roman von Isabel Allende setzt sich auch der peruanisch-amerikanische Schriftsteller Eduardo González Viaña in La frontera del paraíso («Die Grenze zum Paradies») damit auseinander und schenkt dem aktuellen Präsidenten sogar eine explizite Widmung («Dieses Buch ist Donald Trump gewidmet, damit er weiss, wer wir sind und dass Hass eine absurde Sache ist»).

Zum anderen werden künftig wahrscheinlich weitere Tabus gebrochen und artistische Genres miteinander vermischt werden. Obwohl es bereits einige Werke zur sexuellen Identität von US-Latino-Autor_innen gibt, kann ich mir gut vorstellen, dass in den nächsten Jahren auch die Frage der Geschlechteridentität vermehrt thematisiert wird: Wie sieht beispielsweise die Migration von transsexuellen oder geschlechtsneutralen Migrant_innen aus? Aber auch das Vermischen verschiedener Gattungen ist ein Trend, der sich künftig akzentuieren wird. Schon heute gibt es Schriftsteller_innen, wie etwa Carmen María Machado oder Edmundo Paz Soldán, die das Thema der Migration in den Kontext der Horrorliteratur setzen. Andere stellen die Realität der US-Latinos in Graphic Novels dar.

Zum Schluss noch die Frage: Was waren denn die besonders schönen Momente im Verlauf Ihrer Diss?
Ein Highlight war sicher mein Forschungsaufenthalt an der University of California, Santa Barbara, wo ich mich in situ mit der Thematik auseinandersetzen konnte. Dabei habe ich viele namenhafte Experten kennengelernt und sogar Interviews mit ihnen geführt, die ich dann auch für meine Analyse verwenden konnte. Besonders bereichernd war während dieser Zeit auch der telefonische und schriftliche Kontakt zu einigen Autor_innen. So hatte ich unter anderem die Ehre, Isabel Allende und Edmundo Paz Soldán zu interviewen, die meiner Dissertation mit ihren interessanten Beiträgen nochmals eine ganz besondere und persönliche Note verliehen haben. Alle Interviews findet man übrigens im Anhang meiner Dissertation.

Sehr schön finde ich aber auch, dass die US-Latino-Literatur auch bei meinen Studierenden grossen Anklang findet und ich sogar schon Vorschläge für Bachelor- und Masterarbeiten erhalten habe. Ich bin zuversichtlich, dass daraus viele interessante Studien hervorgehen werden. Und natürlich werde auch ich selbst mich weiterhin diesem Thema widmen und neue Tendenzen mitverfolgen.

__________

  • Mit dem 1908 gestifteten , der mit mindestens 1000 Franken dotiert ist, werden herausragende Doktorarbeiten ausgezeichnet. Der Vigener-Preis wurde in diesem Jahr ex-aequo an und an verliehen. Den Bericht zur anderen Dissertation finden Sie .
]]>
/alma-georges/articles/2020/going-norte-migrationsgeschichten-in-spanglish/feed 0
«Wir haben eine Leber» /alma-georges/articles/2020/wir-haben-eine-leber /alma-georges/articles/2020/wir-haben-eine-leber#respond Wed, 11 Mar 2020 13:47:13 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=10597 Organspenden werden kontrovers diskutiert. Deshalb haben Studierende zwei Expertinnen eingeladen.

Das Telefon klingelte in der Werbepause. Es war ein Sonntagabend im Oktober 2013 und Lara Beekman sass gerade mit ihrer Familie vor dem Fernseher, als die Nachricht aus dem Inselspital eintraf: «Wir haben eine Leber für Sie».

Freiburg, Ende Februar 2020. Gemeinsam mit Lucienne Christen – Koordinatorin für Organspende und Transplantation am Berner Inselspital – ist Lara Beekman Gast von «Doctors & Death», einer Gruppe der Fachschaft Medizin. Die Studierenden haben es sich zu Ziel gesetzt, Dinge zu thematisieren, die im Studium zu kurz kommen. Deshalb haben sie die zwei Frauen zu einem Themenabend über Organspenden eingeladen. Der Saal ist gut gefüllt.

«Meine Krankheit begann unscheinbar» erzählt Beekman. «Als junge Frau hustete ich Blut. Hauptsache, die Leber ist in Ordnung, hiess es damals.» Knapp drei Jahrzehnte später überkamen sie heftige Schmerzen im Bauch. Jetzt war der Befund schlimmer: ein Lebertumor. Beziehungsweise: sehr viele gutartige Lebertumore. Das Organ war in einem desolaten Zustand. Und nicht operierbar.

Ein Jahr warten auf die neue Leber
Beekman erzählt einfach, unaufgeregt und authentisch, erzählt ihre sehr private Geschichte. Über ein ziemlich gewöhnliches Leben mit einer ziemlich kaputten Leber. Einem Leben, das jedermanns Leben sein könnte. Genau deshalb hängen Zuhörerinnen und Zuhörer an ihren Lippen. «Ich wusste, dass ich an den Tumoren verbluten kann. Trotzdem entschied ich mich, möglichst normal weiterzuleben». Sie arbeitete und zog ihre Kinder gross. «Und ich merkte: Wenn’s das plötzlich war, dann habe ich ein gutes Leben gehabt».

«Natürlich habe ich mir in dem Jahr, in dem ich auf eine Spenderleber gewartet habe, oft vorgestellt, wie es sein wird, wenn eines Tages das Telefon klingelt. Als es dann soweit war, war es aber recht unspektakulär». Sie packte ihren längst gepackten Koffer, sagte ihren Kindern Gute Nacht und ihr Mann fuhr sie ins Spital.

Lange Listen, professionelle Prozesse
An der Berner Insel ist Lucienne Christen als Koordinatorin für die Organspenden zuständig. Als zweite Referentin ergänzt sie Beekmanns Bericht mit Einblicken hinter die Kulissen. Dort geschieht viel: Potenzielle Empfänger werden nach Dringlichkeit, Alter und weiteren Faktoren gelistet. Via die Stiftung «Swisstransplant» werden schweizweit für passende Organe passende Empfänger gesucht. Und selbstverständlich wird minutiös festgestellt, dass die Spender tatsächlich tot sind. An sechs Schweizer Spitälern werden derzeit Organe transplantiert. Und um das beste Resultat zu erzielen, werden sie auch zwischen den Standorten getauscht.

«Was passiert eigentlich, wenn jemand einen Organspenderausweis hat, aber seine Familie ist gegen die Organentnahme?» meldete sich plötzlich jemand aus dem Saal. «Rein juristisch betrachtet, hätte der Wille des Verstorbenen Vorrang», erklärt Christen. «De facto aber können und wollen wir uns nicht über den Willen einer Familie hinwegsetzen, die gerade jemanden verloren hat.»

Christen spricht differenziert, eindringlich und gut dokumentiert. Für jeden Schritt gibt es ein präzis definiertes Vorgehen. Die Abläufe sind hoch professionell. Was aber fast noch wichtiger ist: Christen verwendet Worte wie «Demut» oder erzählt, wie ruhig, respektvoll und konzentriert eine Organentnahme geschieht. Oder wie wichtig es ihr ist, die Anonymität der Beteiligten zu wahren.

Social Media als Problem
«Social Media ist für uns ein grosses Problem» führt die Koordinatorin aus. «Und da müssen wir unsere Empfänger in die Pflicht nehmen. Ich verstehe, dass sie sofort allen erzählen wollen: Heute habe ich meine neue Niere bekommen!. Aber in der Schweiz kennen wir uns alle über zwei Ecken. Und für die Angehörigen, die gerade jemanden verloren haben, kann es extrem belastend sein, solche Dinge zu lesen und nicht zu wissen: War diese Niere etwa von unserer Tochter?»

157 Personen haben in der Schweiz 2019 Organe gespendet. 1’415 waren auf der Warteliste für ein Organ. 582 haben eines erhalten. Und fünf Jahre nach der Operation sind im Schnitt 85% der Empfängerinnen und Empfänger noch immer am Leben.

«Habe ich eigentlich dieselben Chancen auf ein Organ wie ein gleichaltriger Raucher?», meldet sich eine weitere Stimme aus dem Saal «Ja.» «Und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine Transplantation gelingt?» «Gute Frage! Das wissen wir auch nicht immer. Manchmal scheint alles zu stimmen und es klappt trotzdem nicht».

Bei Lara Beekman hat alles geklappt. Von der Operation erholte sie sich gut, die Zahl der Tabletten konnte sie bald auf eine pro Tag reduzieren. Ihre neue Leber funktioniert. In den letzten Jahren hat Beekman neue Menschen kennengelernt, sie tauscht sich mit anderen Betroffenen aus, ist Ansprechpartnerin für Wartende und Spenderfamilien. Sogar an einer Art «Paralympics» der Transplantierten hat sie mitgemacht – einem Event, bei dem dabei sein tatsächlich fast schon gewinnen ist.

Fakten gegen Fakes
Noch lang nicht gewonnen ist hingegen der Kampf um die Öffentlichkeit. «Es ist wirklich unglaublich, was alles an Lügen kursiert», ärgert sich Christen. «Dass die Leute noch gar nicht richtig tot seien. Dass wir um das Leben von jemandem mit Organspendeausweis gar nicht richtig kämpfen würden, weil wir ja die Organe wollten. Alles hanebüchener Unfug.»

«Natürlich kann man gegen die Spende sein», sagt die Koordinatorin der Insel. «Aber das ist sehr viel leichter, wenn man kein Organ braucht. Steckt man in Frau Beekmanns Schuhen, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Sehen Sie, ich bin jetzt seit 12 Jahren dabei – und ich kann an einer Hand abzählen, wie oft jemand, der ein Organ gebraucht hätte, keines wollte. Alle andern wollen auf die Warteliste. Sogar die grossen Weltreligionen befürworten alle die Organspende! Denn wenn’s ernst wird, wollen wir alle auf die Liste.»

Dankbarkeit und ein neuer Alltag
Lara Beekman hat der Familie ihrer Spenderin einen Brief geschrieben. Das ist möglich – anonym. «Ich war froh, meine Gefühle zu Papier bringen zu können» sagt sie, «auch wenn man es nie so richtig in Worte fassen kann». Ein Jahr lang hörte sie nichts, dann meldete sich eine Tochter der Spenderin. Sie war – wie Beekmann selbst – Mutter dreier Kinder gewesen.

Heute hat Beekman wieder einen normalen Alltag. Sie schützt sich besser vor der Sonne (die Immunsuppression erhöht das Hautkrebsrisiko) und sie macht Home-Office, wenn im Büro alle husten. Und manchmal vergisst sie auch ganz einfach, dass sie transplantiert ist. «Meine Leber ist ein unglaubliches Geschenk» strahlt sie. Seit sieben Jahren geht alles gut. Garantien gibt es nicht, aber Beekman hat gelernt, damit umzugehen. «Das Leben findet jetzt statt».

__________

]]>
/alma-georges/articles/2020/wir-haben-eine-leber/feed 0
Libra: Facebook gegen die Zentralbanken /alma-georges/articles/2019/libra-facebook-gegen-die-zentralbanken /alma-georges/articles/2019/libra-facebook-gegen-die-zentralbanken#respond Mon, 04 Nov 2019 09:00:00 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=9579 «Läutet Libra die Totenglocke für die Zentralbanken?» war die Frage eines Kolloquiums der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Hier eine kurze Einführung in die Welt des Online-Geldes – und die Videos sämtlicher Vorträge.

Was ist Libra?
Libra ist eine digitale Währung, beziehungsweise: Libra wird eine Digitalwährung sein. Facebook hat ihren Start für 2020 angekündigt und ein 12-seitiges Whitepaper publiziert. Seither wird darüber diskutiert, wie Libra genau aussehen und welche Folgen es haben wird.

Herausgegeben wird Libra von der «Libra Association», einer Stiftung mit Sitz in der Schweiz. Dieser sind nebst Facebook bislang knapp 30 Unternehmen und Organisationen beigetreten, darunter Firmen wie Spotify oder Uber. Paypal, Visa, Mastercard und Ebay haben die «Libra Association» bereits wieder verlassen. Ebenfalls nicht dabei sind Facebooks Konkurrenten (Apple, Amazon, Google, Twitter, Microsoft). Auch Banken sind nicht mit von der Partie.

Wie soll Libra funktionieren?
Mit Libra sollen Nutzer online einkaufen und Geld verschicken können. Man kauft z.B. für Schweizer Franken Libra, speichert sein Guthaben in einer digitalen Geldbörse und nutzt es, um im Internet Schuhe zu kaufen oder seinem Schwager in Bolivien Geld zu überweisen. Dabei sollen geringere Transaktionskosten anfallen als bisher.

Facebook hat gemäss eigenen Angaben explizit auch jene 1,7 Milliarden Menschen im Blick, die kein Bankkonto haben. Sie leben in armen Ländern und sind oft starken Wechselkursschwankungen und hoher Inflation ausgesetzt.

Welche Stärken hat Libra?
Libra will ein technisch besseres Finanzsystem schaffen, welches effizienter und billiger sein soll und damit auch ärmere Menschen erreicht, die heute für Banken uninteressant sind. Facebook greift damit nebst den klassischen Banken auch Dienste wie Western Union oder Moneygram an, die internationale Überweisungen anbieten, aber relativ hohe Gebühren verlangen.

Libra, Bitcoin: Ist das nicht dasselbe?
Nein. Zwar sind beides Kryptowährungen, die Alternativen zum etablierten Finanzsystem anbieten wollen, sie verfolgen aber sehr unterschiedliche Philosophien. Bitcoins Idee kann mit Gold verglichen werden, eine Nähe, die auch sprachlich hergestellt wird: Bitcoins werden von Nutzern «geschürft» (ihre Computer rechnen komplizierte Operationen durch), wobei grundsätzlich alle gleich lange Spiesse haben und die maximale Anzahl Coins beschränkt ist. Das macht Bitcoin resistent gegen Inflation. Es gibt keine Zentralbank und die Transaktionen laufen über ein dezentrales Netz, weshalb sie praktisch nicht überwacht oder reglementiert werden können – was die Währung auch für Kriminelle interessant macht.

Libra ist herkömmlichen Währungen ähnlicher. Es wird durch die Libra Association herausgegeben, die auch die Wechselkurse gegenüber den wichtigsten Weltwährungen überwacht. Transaktionen werden über eine zentrale Datenbank abgewickelt. Libra wird nutzerfreundlicher sein als Bitcoin. Es ist aber anfälliger für regulatorische Eingriffe, und weil es an Facebook und andere Grosskonzerne gekoppelt ist, gibt es zumindest ernsthafte Bedenken bezüglich Datenschutzes.

Weshalb wird Libra kritisiert?
Kritiker monieren, das Projekt Libra sei noch komplett schwammig. Wie ein digitaler Rorschachtest, in den alles Mögliche hineingelesen wird. Ganz besonders aber wird kritisiert, Libra sei ein typsicher Silicon-Valley-Versuch, soziale Probleme durch technische Mittel zu lösen. So ignorieren die Libra-Macher, dass die gern zitierten 1,7 Milliarden Menschen ohne Konto vor allem deswegen keines besitzen, weil sie schlicht kein Geld haben, das sie dort einzahlen könnten.

Fragwürdig ist aber auch, dass Facebook und Co. die Macht der Zentralbanken – insbesondere in Entwicklungsländern – angreifen. Diese mögen nicht perfekt sein, sind aber immerhin besser legitimiert, als die Libra-Konzerne. Die Staaten würden an Einfluss auf das Geld- und Finanzsystem einbüssen, was nicht im Sinn der Bürgerinnen und Bürger sein kann.

Hinzu kommen Fragen, welche Daten wo gespeichert werden und wer sie alles einsehen kann. «Entweder Libra ist anonym» moniert ein IT-Berater, «dann ist das gut für die Nutzer, aber auch für Geldwäscher und Kriminelle. Oder Libra ist nicht anonym – dann können Facebook und seine Partner noch präzisere Nutzerprofile erstellen und eine bombastische Datenmacht erlangen».

Nicht zuletzt sind diverse rechtliche Fragen rund um Libra bislang ungeklärt.

Kolloquium «Läutet Libra die Totenglocke für die Zentralbanken?»

Die folgenden Videodateien zeigen Ausschnitte aus dem Kolloquium vom 03.10.2019.

__________

  •  mit den Details zum Programm in der Agenda der Unifr.

 

]]>
/alma-georges/articles/2019/libra-facebook-gegen-die-zentralbanken/feed 0
«Wie komme ich vom Studium zum Job?» /alma-georges/articles/2019/wie-komme-ich-vom-studium-zum-job /alma-georges/articles/2019/wie-komme-ich-vom-studium-zum-job#respond Wed, 18 Sep 2019 07:11:02 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=9273 Die Career Services sind noch kein Jahr alt – und bieten bereits spannende Angebote für Studierende und Doktorierende.

Herr S., Sie helfen Studierenden und Doktorierenden, eine Stelle zu finden. Wie sind Sie selbst zu Ihrem Job gekommen?
Ich habe hier in Freiburg Soziologie, Ethnologie und Religionswissenschaften studiert und habe dann einen ziemlichen Slalomlauf hingelegt. Erst habe ich als Sozialarbeiter mit Flüchtlingen gearbeitet, dann war ich Journalist bei Radio RaBe, der Aargauer Zeitung und habe ein Praktikum bei GEO gemacht. Und schliesslich war ich damit betraut, arbeitslosen Menschen auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu helfen.

Und dabei haben Sie hunderte Lebensläufe studiert.
Mindestens! Und ich konnte meine journalistische Erfahrung einbringen. Das Prinzip «show don’t tell» lässt sich auch auf Motivationsschreiben anwenden. Wenn jemand schreibt, er sei innovativ, dann ist das ein leeres Wort; das prallt ab. Wenn er aber schreibt, er habe in der Kanti ein Start-Up gegründet und Schleckstängel mit neuen Aromen entwickelt, dann beginnt die Sache zu leben.

Sie helfen den Studierenden aber nicht nur mit Motivationsschreiben und CVs. Was bieten die Career Services insgesamt?
Unser Service hat drei Pfeiler: 1. Einzelberatungen und Coachings, 2. Workshops zu verschiedenen Themen des Berufseinstiegs und 3. die Vernetzung mit der Berufswelt. Beim letzten Punkt planen wir beispielsweise, mit den Alumni ein Mentoring-Netzwerk aufzubauen und laden Arbeitgeber an die Uni ein. Am 21.10.2019 ist beispielsweise die Bundesverwaltung zu Gast.

Der Name «Career Services» klingt etwas nach Lackschuhen und Krawatte. Ist Ihr Ziel, möglichst viele Studierende in gut bezahlte Jobs zu bringen?
Natürlich wollen wir, dass unsere Studierenden gut bezahlte Jobs finden. Aber wichtiger ist uns, dass sie einen Job finden, den sie gerne machen, den sie sinnvoll finden und in welchem sie sich selbst zur Entfaltung bringen können. Aber Sie haben recht, die Bezeichnung «Career Services» stösst zuweilen auf Ablehnung. Kürzlich war ich an einem «Employer Forum», wo gern von «recruiting the best of the best» gesprochen wurde. Das ist nicht meine Perspektive. Wir sehen das Wort Karriere neutral – wir machen alle eine Karriere. Die kann steil nach oben führen, aber auch vielfältig und breit sein. Wir wollen einfach, dass unsere Studierenden in ihrem Berufsleben nicht bloss herumgeschleudert werden, sondern auch ihre Wünsche verfolgen können.

Mit welchen Fragen kommen Studierende denn zu Ihnen?
Zunächst einmal geht es um ein simples, technisches Problem: Wie komme ich vom Studium zum Job? Und manche Studierende sind da ziemlich gestresst. Das ist verständlich, denn manche Leute sind nach der Uni erst einmal arbeitslos und das ist kein schönes Gefühl.

Trotzdem lohnt es sich, nicht gleich die erstbeste Stelle anzunehmen, für die man ungefähr qualifiziert ist, bloss weil man Angst hat, dass man sonst überhaupt nichts findet. Wenn Sie bis Mitte zwanzig studieren, dann haben Sie noch 40 Jahre in der Arbeitswelt vor sich. Deshalb ermuntere ich die Studierenden, neugierig zu sein und genau zu spüren, wo das eigene Feuer brennt.

Sie sagen also, dass man alles werden kann, wenn man nur daran glaubt?
Ganz so naiv bin ich nicht. Aber es gibt ein Zitat von Seneca, das unsere Arbeit begleitet. «Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige». Und das merkt man beispielsweise bei den Bewerbungsschreiben. Wenn jemand nicht weiss, ob er den Job wirklich will, dann merkt man das. Wobei es positiv formuliert noch mehr stimmt: Man merkt es, wenn jemand einen Job wirklich will.

Aber woher soll man wissen, was man will? Man hat den neuen Job ja noch nie gemacht.
Kafka hat gesagt «Wege entstehen dadurch, dass man sie geht». Es kann sein, dass eine Stelle bei genauerer Betrachtung anders ist als gedacht. Oder dass sich die eigenen Interessen verschieben. So what? Jemand, der im Journalismus anfängt, arbeitet später vielleicht in der PR. Das ist heute normal. Die allermeisten von uns machen im Lauf ihres Lebens ganz unterschiedliche Berufe.

Sie wollen den Studierenden also den Druck nehmen.
Ja. Und ich ermuntere sie dazu, selbstbewusst zu sein. Sie sollen sich nicht überlegen «Wo gibt es einen Job auf den ich mich bewerben könnte?» . Sie sollen sich überlegen «Wo bin ich gut? was macht mich aus? Was tue ich gern?». Sie sollen bei ihren Fähigkeiten anfangen – nicht bei ihren Ängsten.

Was raten Sie den Studierenden noch?
Sich nicht stromlinienförmig zu machen. Sonst schreibt man viel zu glatte CVs und Motivationsschreiben. Und in denen fehlt das Leben. Wer sich bewirbt, bewirbt sich als Persönlichkeit. Da gehört auch dazu, was man in der Freizeit tut, wofür man sich engagiert und es gehört auch dazu, wo man gescheitert ist. Da kann man dann sagen: «das habe ich versucht, es hat nicht geklappt, und das habe ich daraus gelernt». Man soll nicht nichts verstecken, aber man soll nicht das Gefühl haben, dass man nur ein Chance hat, wenn man überhaupt keine Ecken und Kanten hat.

Welche Rolle spielen elektronische Kanäle bei der Bewerbung?
Eine immer grössere und sie wird weiter wachsen. Und gerade hier treten allerlei Anbieter mit grossen Versprechen auf. Es ist ein weites, unübersichtliches Feld, in dem man sich auch verlieren kann. Deshalb raten wir den Studierenden, sich gut zu überlegen, welche Social-Media-Tools sie nutzen wollen und welche nicht. Besser nur ein gutes LinkedIn-Profil als lauter schlecht bewirtschaftete Profile bei Facebook, Xing, LinkedIn und Instagram.

A propos Zukunft: Was können die Studierenden in den nächsten Jahren von den «Career Services» erwarten?
Die Career Services werden Ihr Angebot in nächster Zeit laufend diversifizieren. Wir möchten massgeschneiderte Angebote bieten für alle Studierenden. Wir möchten spezifische Angebote für Doktorierende entwickeln, die sich eine ausserakademische Karriere vorstellen können. Weiter möchten wir auch zusammen mit den Fakultäten fächerbezogene Veranstaltungen organisieren. Dann werden wir auch vermehrt potentielle Arbeitgebende zu sogenannten Lunchtalks an die Universität holen, von der Privatwirtschaft über internationale und nationale Organisationen bis hin zu Institutionen der öffentlichen Hand. Schliesslich soll es künftig auch an der Universität Freiburg eine «Lange Nacht der Karriere» geben, wo Arbeitgebende, Alumni und Studierende sich in einer spielerischen Art und Weise austauschen und voneinander lernen können.

__________

]]>
/alma-georges/articles/2019/wie-komme-ich-vom-studium-zum-job/feed 0
«Kann der Staat Religionsgemeinschaften zu Gleichberechtigung verpflichten?» /alma-georges/articles/2019/kann-der-staat-religionsgemeinschaften-zu-gleichberechtigung-verpflichten /alma-georges/articles/2019/kann-der-staat-religionsgemeinschaften-zu-gleichberechtigung-verpflichten#respond Mon, 02 Sep 2019 11:25:55 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=9077 40 Jahre Institut für Religionsrecht: Das ist der Anlass für eine Tagung am 6. September in Bern – und für eine Vor- und Rückschau mit Institutsleiter René Pahud de Mortanges.

Herr Pahud de Mortanges, wenn Sie auf die 40 Jahre Ihres Instituts zurückblicken, welche Höhepunkte fallen ihnen auf?
Unter meinem Vorgänger Louis Carlen wurden in den ersten 20 Jahren vor allem Rechtsfragen behandelt, die die christlichen Kirchen, namentlich die katholische betrafen. In meiner Zeit haben Fragen zu religiösen Minderheiten stark an Gewicht gewonnen. Sie ergeben sich aus der verstärkten Präsenz beispielsweise von Muslimen oder Hindus in der Schweiz. Die Adaptation des Schweizer Rechtssystems an die neue religiöse Vielfalt war ein zentrales Thema der letzten 10, 20 Jahre.

Worum ging es da konkret?
Beispielsweise um die Öffnung der öffentlich-rechtlichen Anerkennung für neue Religionsgemeinschaften. Oder um die Seelsorge in Spitälern und Gefängnissen. Es ging aber auch um finanzielle Fragen. Der Staat entschädigt mancherorts die Kirchen für Leistungen, die der Gesamtgesellschaft zu Gute kommen. Da stellt sich die Frage ob er das z.B. auch für Leistungen jüdischer oder muslimischer Gemeinschaften machen könnte, die der Allgemeinheit dienen.

Und was hat Sie persönlich besonders begeistert?
Oh, vieles! Wir konnten rechtspolitische Diskussionen begleiten, hatten einen interessanten Austausch mit Vertretern staatlicher Institutionen und Politikern, aber auch mit den Leitungspersonen von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Es war aber auch spannend zu sehen, wie die Wissenschaft auf den religiösen Wandel reagiert hat. Religionswissenschaftler, Religionssoziologinnen oder Anthropologen: Deren Perspektiven waren für mich oft äusserst lehrreich. Zudem haben sich die wissenschaftlichen Diskussionen stark internationalisiert. Früher verliefen die Debatten in nationalen Räumen, heute finden sie oft auch in internationalen Netzwerken statt. Gerade hier kann das Institut Türöffner sein und Vermittler in Diskussionen, die auf die Schweiz zukommen werden.

Internationale Diskussionen sind auch ein Thema an der Tagung vom 6. September.
Genau, da wird beispielsweise darüber diskutiert, ob und wie die Rechtsprechung der europäischen Gerichte Einfluss auf das Verhältnis von Staat und Religion in der Schweiz ausübt. Die europäischen Gerichte agieren in Fragen zum Thema Staat und Religion meist zurückhaltend, aber in der Schweiz ist der Einfluss europäischer Gerichte ja ein brisantes Thema. Da bin ich gespannt auf das Referat von Astrid Epiney!

Übergeordnetes Thema der Tagung sind die offenen Fragen im Verhältnis von Staat und Religion. Was ist denn da noch nicht geklärt?
Es geht beispielsweise um die Frage, ob der Bund mehr Kompetenzen erhalten soll. Heute ist das rechtliche Verhältnis von Staat und Religion grösstenteils Angelegenheit der Kantone. Das ist eine bewusst föderalistische Lösung, die auf die Reformation und den Sonderbundskrieg zurückzuführen ist. So können katholische Kantone beispielsweise andere Bestimmungen erlassen als reformierte. Das Verhältnis von Staat und Religion wird heute aber zunehmend auch auf nationaler Ebene thematisiert. Demnächst werden wir beispielsweise über ein nationales Verhüllungsverbot abstimmen. Und im eidgenössischen Parlament gab es eine Motion, religiöse Stiftungen besser zu überwachen. Die spielen traditionell vor allem in der katholischen Kirche eine Rolle, dem Motionär ging es aber primär um islamische Stiftungen. Hier muss der Bund nun Stellung nehmen. Angesichts dieser und verschiedener anderer Motionen stellt sich die Frage, welche Aufgaben und Verantwortung der Bund in diesem Bereich hat.

Ein anderes Thema ist die Spannung zwischen Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung. Einige Religionsgemeinschaften haben vergleichsweise paternalistische Strukturen. Staat und Gesellschaft fordern immer entschiedener, dass niemand aufgrund seines Geschlechts diskriminiert werden soll. Hat der Staat für Nichtdiskriminierung innerhalb der Religionsgemeinschaften zu sorgen und kann er das überhaupt?

Spannend, da kollidieren zwei Rechtsgrundsätze!
Und genau deshalb bin ich sehr gespannt, was Eva Maria Belser an der Tagung dazu sagen wird.

Geht es nur um Wissenschaft an dieser Tagung?
Für uns ist sie auch eine Gelegenheit, allen zu danken, die in den letzten Jahren mit uns unterwegs waren. Es werden Leute da sein, mit denen wir zusammengearbeitet haben und auch heute noch kooperieren – sozusagen ein Treffen der religionsrechtlichen Szene. Zunächst in einem wissenschaftlichen Rahmen und später dann auch in einem entspannten, informellen Teil.

Blicken wir zum Schluss noch in die Zukunft: Was wird uns als Gesellschaft allgemein und Ihr Institut ganz besonders in den nächsten Jahren beschäftigen?
Wir haben gerade eine Studie gemacht, die zeigt, dass sich grosse Mehrheit der religionsrechtlichen Motionen auf kantonaler Ebene heute um den Islam dreht. Fragen zum Islam in der Schweiz werden wohl ein Thema bleiben.

Andererseits sehen wir, dass der privilegierte Status der öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen zusehends unter Druck gerät. Da sieht man die Säkularisierung: Politiker fragen kritisch, warum die Kirchen staatliche Finanzhilfen erhalten oder warum man an religiösen Feiertagen keine Geschäfte aufmachen oder keine Discos veranstalten kann. Der Status der Landeskirchen wird verstärkt unter Druck kommen. Wie werden die Kirchen damit umgehen?

Auch die Frage von Religionsfreiheit versus Nichtdiskriminierung wird vermutlich an Brisanz gewinnen. Genauso die Frage nach der Religion in der Öffentlichkeit. Wieviel sichtbare religiöse Diversität erträgt die Schweiz? Werden hier zukünftig verstärkt Regeln erlassen? Dem Institut für Religionsrecht wird die Arbeit auch in Zukunft nicht ausgehen.

 

__________

  • des Instituts für Religionsrecht

 

]]>
/alma-georges/articles/2019/kann-der-staat-religionsgemeinschaften-zu-gleichberechtigung-verpflichten/feed 0
«Ich finde das Manifest überhaupt nicht radikal» /alma-georges/articles/2019/ich-finde-das-manifest-uberhaupt-nicht-radikal /alma-georges/articles/2019/ich-finde-das-manifest-uberhaupt-nicht-radikal#respond Thu, 02 May 2019 13:12:18 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=8352 Am 14. Juni wird gestreikt – auch an den Schweizer Universitäten. Bereits heute haben Forscher_innen ein Manifest veröffentlicht.

Francesca Falk, warum kommt es am 14. Juni zu einem schweizweiten Frauenstreik?
Einen einzelnen Auslöser gibt es nicht. Der Streik wird auch nicht von einem zentralen Komitee organisiert – die Bewegung ist vielfältiger und speist sich aus dem Ärger vieler Einzelner. Anders gesagt: Viele Frauen haben offenbar einfach gerade genug. Es gibt zahlreiche Bereiche, in denen es seit Jahren nicht vorwärts geht – und andere, wo wir einen richtigen Backlash erleben. Besonders sichtbar ist der in den USA mit Donald Trump.

Und diesen Backlash gibt es auch in der Schweiz?
Absolut. Beispielsweise kommen die Genderstudies vermehrt unter Druck. Bereits Erreichtes wird wieder infrage gestellt. Dagegen wehren sich die Streikenden. Oder es gibt den erschreckenden Hass gegen Politikerinnen im Internet. Frauen, die sichtbar ihre Position vertreten, werden da massiv angegangen. Und das nicht nur, wenn sie polarisieren: Sogar die ausgesprochene Konsenspolitikerin Doris Leuthard hat sich kürzlich darüber beklagt, was sie alles an Beschimpfungen aushalten muss. Die Bekämpfung dieser «Hatespeech» ist darum auch eine der Forderungen des Streiks.

Was sind denn weitere Anliegen?
Unterschiedliche Frauen haben unterschiedliche Anliegen, dementsprechend breit sind auch die Forderungen. Viele ärgern sich beispielsweise über weiterhin bestehende Lohndifferenzen oder über die Unterschiede bei der unbezahlten Arbeit. Es gibt Studien, die zeigen, dass Männer und Frauen in der Schweiz ungefähr gleich viel arbeiten. Bloss übernehmen die Frauen viel mehr schlechter oder gar nicht bezahlte Arbeit. Das führt dazu, dass ihr durchschnittliches Einkommen am Ende nur etwas mehr als halb so gross ist, wie jenes der Männer.

Deshalb werden auch Sie am 14. Juni streiken.
Ja. Mir war von Anfang an klar, dass ich mich engagieren wollte, ich hatte aber ein Problem: Mein Streik wäre nicht automatisch sichtbar. Es sind Semesterferien und ob ich da arbeite oder nicht, merkt eigentlich niemand. Anderen Forscher_innen aus der ganzen Schweiz ging es genau gleich. Zugleich gibt es auch an der Uni einen grossen Handlungsbedarf. Und so beschlossen wir, ein nationales Manifest mit hochschulspezifischen Forderungen zu verfassen.

Und was steht da drin?
Insgesamt sind es . Dabei geht es beispielsweise um Schritte gegen die prekären Arbeitsbedingungen an den Universitäten oder darum, dass wir heute zwar mehr Studentinnen als Studenten, aber noch immer viel zu wenige Professorinnen haben.

Viele Massnahmen benötigen kein Geld, sondern die richtigen Entscheide. Nehmen wir Job-Sharing: In der Histoire contemporaine teilen sich bereits zwei Professoren ein Pensum. An den meisten anderen Instituten und Universitäten ist solches aber noch immer nicht möglich. Dabei würde Job-Sharing mehr Frauen eine Professur ermöglichen.

Andernorts ist es eine Frage, welche Form von Frauenförderung betrieben wird. Beim SNF wurde beispielsweise ein Förderinstrument für Frauen mit Familie durch ein Exzellenz-Instrument ersetzt, das nur Frauen ab der Post-Doc-Stufe offensteht.

Damit spricht man aber ein anderes Klientel an. Dass der Frauenanteil mit jedem akademischen Karriereschritt abnimmt hat ja Gründe. Die Arbeitsverhältnisse an den Universitäten verlangen eine hohe Mobilität und sind sehr oft prekär – also schlecht bezahlt, befristet oder beides. Dabei brauchen gerade Forschende, die eine Familie wollen, auch eine gewisse finanzielle Sicherheit und können nicht einfach so mobil sein. Wir fordern deshalb mehr unbefristete Stellen und dass die Mobilität keine Voraussetzung für eine akademische Karriere sein darf.

Und erreicht man es, dass es mehr Frauen ganz an die Spitze schaffen?
Indem die Universitäten mehr Professorinnen berufen. Bis da Ausgeglichenheit herrscht, fordern wir, mindestens 50 Prozent der Professuren mit Frauen* zu besetzen.

Eine 50%-Quote bei Neuberufungen!?
Warum denn nicht? Wir hätten auch mehr verlangen können. Ganz allgemein finde ich unser Manifest überhaupt nicht radikal. Was wir fordern ist vernünftig.

Manche Probleme lassen sich tatsächlich ändern, indem man die Spielregeln ändert. Anderem ist nicht einfach so mit einem neuen Reglement beizukommen.
Stimmt. Beispielsweise Belästigungen oder der alltägliche Sexismus. Als ich doktorierte, verglich ein Professor in einem Kolloquium den Google-Schlitz mit einer Vagina – man könne bei beiden alles Mögliche reinschieben. Es waren damals mehrere Professoren anwesend, aber keine Professorin – und niemand sagte etwas dazu, es wurde nur gelacht. Wir Doktorandinnen waren schlicht zu schockiert, um darauf adäquat reagieren zu können. Gibt es mehr Frauen in Machtpositionen, dann verschwinden solche Bemerkungen. Auch darum geht es uns mit unserem Manifest.

Wer kann das Manifest denn überhaupt unterzeichnen?
Da sind wir sehr offen. Der Text beginnt mit den Worten: «Wir sind Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen und werden am 14. Juni 2019 streiken.» Alle, die sich damit identifizieren  − unabhängig von ihrem Geschlecht −, können das Manifest unterschreiben.

Was versprechen Sie sich denn vom Manifest? Die Forderungen werden ja wohl kaum eins zu eins umgesetzt.
Die Funktion des Manifestes ist es, eine Diskussion anzustossen und ein  Bewusstsein für die Defizite zu schärfen. Als ich beispielsweise schwanger wurde, war klar, dass ich mich in den ersten Monaten um das Kind kümmern werde, weil nur ich Anspruch auf eine bezahlte Elternzeit hatte. Mein Partner hatte damals eine Woche Vaterschaftsurlaub und konnte zudem noch geblockt ein paar Ferienwochen beziehen und das Pensum später eine gewisse Zeit reduzieren, was bereits eine sehr privilegierte Situation war. Und trotzdem war das noch lange keine gleichberechtigte Aufteilung. Der Staat bestimmt von Anfang an die Rollenverteilung und das hat weitreichende Folgen. Er greift an einem extrem intimen Punkt in unsere Beziehung ein und bestimmt, wer was zu tun hat. Solche Fragen müssen gesellschaftlich diskutiert werden.

War denn der letzte Frauenstreik politisch ein Erfolg?
Ja. Kurzfristig sowieso: eine halbe Million Frauen hat mitgemacht. Damit war der Frauenstreik der grösste Streik seit dem Landesstreik (wobei auch unbezahlt arbeitende Frauen streikten; die fallen bei gängigen Streikdefinitionen durch die Maschen). Wichtiger aber war, dass der Streik der Frauenbewegung starken Auftrieb verliehen und dass der politische Druck unter anderem zum Gleichstellungsgesetz von 1996 und zur Wahl der zweiten Frau (Ruth Dreifuss) in den Bundesrat beigetragen hat.

Und können sich eigentlich auch Männer am Streik engagieren?
Natürlich! Solange sie sich nicht in den Vordergrund drängen. Beim letzten Frauenstreik 1991 haben Männer beispielsweise eine Streikküche betrieben, damit die Frauen streiken konnten. Bei unseren Sitzungen gibt es zudem gegenwärtig eine Gruppe von Männern, die jeweils die Kinderbetreuung übernimmt. Wir vergessen sowieso viel zu oft, dass feministische Anliegen, wie  etwa die Elternzeit oder generell eine gerechtere Gesellschaft auch Anliegen von vielen Männern sind.

Und wenn man keine Zeit hat?
Das Mitmachen am Streik ist sehr niederschwellig. Wer nicht den ganzen Tag streiken kann, kann beispielsweise morgens um 11h mitmachen. Zu diesem Zeitpunkt finden in der ganzen Schweiz symbolische Aktionen statt. Wer gar keine Möglichkeit hat, die Arbeit niederzulegen, kann zudem etwa durch die Kleidung oder das Aufstellen von Schildern auf den Frauenstreik und seine Forderungen aufmerksam machen.

Was wird am 14.6. an den Unis stattfinden?
So genau kann ich das nicht sagen – es hängt von den Unis und den unzähligen Gruppierungen ab, die etwas auf die Beine stellen. Weil Semesterferien und die meisten Leute nicht da sind, werden die grossen Kundgebungen wohl eher anderswo stattfinden. Ich selbst werde in Bern sein, da ich dort im lokalen Streik-Komitee aktiv bin. In Freiburg spüren wir übrigens auch einen gewissen Support aus dem Rektorat: Astrid Epiney hat eine E-Mail geschrieben mit der Bitte, dass am 14.6. keine Prüfungen stattfinden sollen. So können sich auch alle Studierenden am Streik beteiligen. Zudem wird sie mit uns über das Manifest diskutieren. Dieser öffentliche Anlass findet zusammen mit anderen Mit-Diskutierenden am 15. Mai von 18.30 bis 20 Uhr in der Miséricorde statt – wir freuen uns sehr, wenn möglichst viele kommen – und natürlich auch unser Manifest unterschreiben!

Emanzipation und Migration.
Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass Migration viel dazu beigetragen hat, die Verhältnisse in der Arbeitswelt, Bildung und Politik zugunsten von Frauen zu verändern. Francesca Falks soeben veröffentlichtes Buch beleuchtet diese Zusammenhänge zum ersten Mal in einer Gesamtschau. Da heute Migration oft als Gefahr für die Gleichberechtigung gesehen wird, sind diese Befunde von besonderer Bedeutung und Brisanz. Gender Innovation and Migration in Switzerland. Cham: Springer International Publishing (Palgrave ÌÇÐÄVolg in Migration History).
Open Access:

__________

  • Zum
  • Infos zum
  • Am Mittwoch, 15. Mai diskutiert unsere Rektorin Astrid Epiney gemeinsam mit Pascal Gygax (Psycholinguist), Niels Rebetez (Vertreter des CSWM im Fakultätsrat) sowie Francesca Falk (Mit-Initiantin Manifest) an einer öffentlichen Veranstaltung über die vorgebrachten Forderungen. Moderiert wird der Anlass von Sarah Baumann und Pauline Milani. 15.5. 2019, 18.30 Uhr, Miséricorde 11 salle Laure Dupraz 2.102
  • Webseite von
]]>
/alma-georges/articles/2019/ich-finde-das-manifest-uberhaupt-nicht-radikal/feed 0
«Sie können den Leuten nicht einfach sagen: ‹Gehen Sie schwimmen›» /alma-georges/articles/2019/sie-konnen-den-leuten-nicht-einfach-sagen-gehen-sie-schwimmen /alma-georges/articles/2019/sie-konnen-den-leuten-nicht-einfach-sagen-gehen-sie-schwimmen#respond Thu, 07 Feb 2019 12:40:49 +0000 https://www3.unifr.ch/alma-georges?p=7754 Gregor Hasler ist unser neuer Professor für Psychiatrie und Psychotherapie. Derzeit beschäftigt er sich primär mit dem Aufbau des neuen Masterstudiengangs in Humanmedizin. Dieser startet im Herbst.

Herr Hasler, was sind die Ideen des neuen Masterstudiengangs in Humanmedizin?
Zuerst muss ich sagen, dass ich hier auf einen fahrenden Zug aufspringe, den Professor Bonvin und Professor Rodondi aufgegleist haben. Ihnen gebührt die Anerkennung für den neuen Master. Aber ich kann einige Akzente einbringen, das macht die Aufgabe in Freiburg für mich besonders reizvoll. So wollen wir, dass die Studierenden schon früh mit der Hausarztmedizin in Kontakt kommen.

Also mehr Hausarzt- und weniger Spitzenmedizin?
Es geht nicht darum, die Bereiche gegeneinander auszuspielen, sondern darum, wie die Studierenden ihr Wissen aufbauen. In der Spitzenmedizin sehen sie täglich Patienten mit seltenen Krankheiten und natürlich ist das hoch interessant. Aber in der Grundversorgung haben sie es mit den häufigsten medizinischen Problemen zu tun und lernen, wie sie diese angehen. Wer die Realität des Hausarztberufs kennt, kann sein Wissen ganz anders vernetzen. Uns ist es wichtig, den Studierenden diesen Erfahrungshorizont mitzugeben. Außerdem müssen sie in der Grundversorgung mehr im Team agieren.

Die Ärztinnen und Ärzte von morgen sollen also lernen, vernetzt zu denken.
Und vernetzt zu arbeiten! Ich habe beispielsweise viel zu Essstörungen geforscht: Das hat mit Endokrinologie zu tun, mit dem Metabolismus, mit Psychiatrie. Oder nehmen wir Intoxikationen: Da geht es um Psychopharmakologie, um innere Medizin, aber auch um Psychiatrie. Heute werden diese Patienten oft zwischen den verschiedenen Abteilungen hin und her geschoben. Wenn man nicht eng zusammenarbeitet, kommt man aber oft nicht weiter. Deshalb ist es wichtig, dass sich die involvierten Ärzte kennen lernen, dass sie nicht bloss Berichte schreiben, sondern auch mal telefonieren und sich zusammensetzen. Dafür haben wir gerade hier in Freiburg durch die relative Kleinheit gute Voraussetzungen.

Was ist Ihnen pädagogisch wichtig?
Wir wollen Formate wie den Unterricht in der Klinik fördern, den Kleingruppen-Unterricht oder die Vernetzung zwischen den medizinischen Fächern. Zudem wollen wir die Selbständigkeit der Studierenden stärken. Früher wurden diese in Vorlesungen stundenlang berieselt, heute müssen wir sie mehr aktivieren. Hinzu kommt die individuelle Begleitung: Jeder Studierende bekommt einen Betreuer, der mit ihm/ihr schaut, wo er/sie hin will und was es braucht, um voranzukommen.

Das Medizinstudium und auch der Beruf gelten nach wie vor als Verschleissjob.
Leider. Ich habe ein Buch über Resilienz geschrieben und diese Arbeit wird sicher in meine Unterrichtsphilosophie einfliessen.

Resilienz? Da haben Sie ein sehr trendiges Thema gewählt!
Ich weiss. Beziehungsweise: Als ich mit der Forschung dazu anfing, wusste ich noch nicht, dass es einmal so populär werden würde. Aber offenbar bin ich auf Trendthemen abonniert:  Mein letztes Buch beschäftigt sich mit der Darm-Hirn-Achse. Beides sind aber auch wissenschaftliche «hot topics». Ginge es nur um das populäre Interesse, wäre es nicht meins.

Wie sind Sie überhaupt bei der Psychiatrie gelandet?
Ich habe in Zürich, Paris und London studiert und begann danach als Assistenzarzt auf der Inneren Medizin. Dann arbeitete ich an der Medizinischen und Psychiatrischen Polikliniken des Universitätsspitals Zürich und es ging immer mehr in Richtung Psychiatrie. Nach einigen Jahren hat es mich doch mehr in Richtung Forschung gezogen und Prof. Jules Angst schickte mich in die USA. Dort verstand ich mich aber mit meinem Vorgesetzten schlecht. Schliesslich ging ich zu seinem Vorgesetzten und sagte ihm, ich gehe jetzt langsam heim. Was ich nicht wusste: gerade eben hatte Präsident Bush das Forschungsbudget verdoppelt. Also bot er mir eine Stelle an. Plötzlich forschte ich mit einem der meistzitierten Psychiater der Welt und erhielt einige Stunden pro Woche Privatunterricht. Heute sind Depressionen und Essstörungen meine wichtigsten Forschungsfelder.

Eine besondere Form der Depression, das Burn-Out, ist auch unter Medizinern verbreitet.
Und da müssen wir unsere Leute besser vorbereiten. Beispielsweise müssen wir unseren Studierenden realistischere Erwartungen an sich selbst und an ihren Beruf mitgeben. In der Theorie gibt es für die meisten Probleme eine Lösung, in der Praxis sieht es ganz anders aus. Da gibt es viele chronische Geschichten, Patienten mit unklaren Symptomen, verwirrendem Krankheitsverlauf oder solche, wo man bloss noch die Symptome lindern kann.

Das erfordert eine gewisse Bescheidenheit.
Wenn drei Patienten ein Spital betreten, bleiben bei zweien die Ursachen der Symptome unklar. Warum genau einer Bauchschmerzen hat und sich beim andern der Sehnenansatz entzündet, können wir oft nicht sagen. Meist ist schon viel erreicht, wenn wir schlimmere Ursachen ausschliessen können.

Wenn Sie den Anspruch haben, sagen zu können: «Das ist das Symptom, folglich ist das die Krankheit, folglich kann ich sie mit diesem Mittel heilen», dann kommen Sie zuverlässig zum Burnout. Vieles in ihrer Arbeit wird unklar bleiben. Sie werden mit Unwissen umgehen müssen und auch mit Ohnmacht. Und darauf müssen wir die Studierenden vorbereiten.

Sie plädieren also für mehr Realismus.
Ja. Ich sehe das auch in meiner Arbeit mit Leuten mit Gewichtsproblemen wegen Essstörungen. Sie können den Leuten nicht einfach sagen «Gehen Sie schwimmen» oder «Essen Sie weniger». Das kommt alles nicht an. Man muss viel mehr schauen, wo stehen die Leute? Welche Bewegung könnte ihnen Spass machen? Vielleicht ist Schwimmen das grosse Trauma ihrer Kindheit?

Manche essen sehr ungesund, andere können nicht kochen, dritte haben keinen geordneten Rhythmus: da können Sie nicht sagen «Ab morgen essen Sie bitte mediterran». Da müssen Sie erst schauen: Kann der kochen? Will der kochen? Wie könnte er sein Nahrungsspektrum erweitern? Was könnte ihn motivieren und wo sind die Widerstände gegen eine Veränderung?

Sie wollen Verhaltensänderungen nicht befehlen, sondern begleiten.
Medizin ist ja immer eine Verhaltensänderung: Machen Sie mehr Bewegung, halten Sie diese Diät, nehmen Sie diese Tabletten. Nur sind wir Menschen leider furchtbar undiszipliniert. 50% der Leute nehmen die Tabletten nicht, die man ihnen verschreibt. Obwohl das auf den ersten Blick ja sehr einfach wäre. Auch das ist eine Realität. Wichtig scheint mir, dass jeder Arzt die Grundprinzipien der Verhaltenstherapie kennt, das heisst von den wissenschaftlich fundierten Methoden, Verhalten nachhaltig zu ändern.

Sie wollen also Pragmatikerinnen und Pragmatiker ausbilden, keine Halbgötter in Weiss.
Interessanterweise haben die Patienten diesen Anspruch ja gar nicht. Die wollen primär einen Arzt oder eine Ärztin, die sie ernst nimmt.

__________

  • der Abteilung Medizin
]]>
/alma-georges/articles/2019/sie-konnen-den-leuten-nicht-einfach-sagen-gehen-sie-schwimmen/feed 0